von Inka Grabowsky, 19.03.2018
Flüchtling, Wohlstandssucher oder Krimineller
Im Kreuzlinger Museum Rosenegg stellte der Ermatinger Autor Adolf Jens Koemeda seinen neuen Roman „Die Absicht“ vor. Ein jungen Bosnier schliesst sich darin den Flüchtlingsströmen an.
Von Inka Grabowsky
„Die Schicksale der Kriegsflüchtlinge aus Syrien sind tragisch“, erklärt der Schriftsteller vor Beginn seiner Lesung. „Ich kenne sie aber nur aus den Medien. Was ich aus eigener Anschauung kenne, sind Fluchtgründe von Menschen aus dem ehemaligen Ostblock. Das ist mein Thema.“ Koemeda selbst kam 1966 aus Prag in die Schweiz. Er erzählt von Verwandten, die der Willkür des sozialistischen Systems ausgeliefert waren und daran zu Grunde gingen. Er schildert, wie grundsätzlich anders das Staatsverständnis bei Menschen ist, die in einer Diktatur leben. „Wer den Staat nicht bestiehlt, bestiehlt seine Familie“, zitiert er eine tschechische Redensart aus der Zeit des Kommunismus. „Wer den Staat bestiehlt, tut also nichts Böses, sondern begeht einen heroischen Akt des Widerstands.“ Diese Zusammenhänge hatte er in seinem vor fünf Jahren erschienenen Roman „Der Zufall“ herausgearbeitet. In seinem neuen Werk zur aktuellen Flüchtlingskrise betrachtet er die Spätfolgen von vierzig Jahren eisernem Vorhang. „Es braucht sehr lange, bis sich die Psychologie ändert“, sagt der mittlerweile pensionierte Psychiater. „Die Werte passen sich den veränderten Bedingungen nur allmählich an.“ Sein Ich-Erzähler aus Bosnien lässt sich vom Wunsch nach Wohlstand aus der Heimat fortlocken. Nach der Scheidung seiner Eltern hält den jungen Studenten Simmi dort nichts mehr. Also lernt er gezielt deutsch und sucht sein Glück im Norden. Als die Leser ihn kennenlernen, sitzt er allerdings in Untersuchungshaft. Er schreibt seine Geschichte als ehrlichen Rechenschaftsbericht.
Laudatio vom langjährigen Weggefährten
„Simmi ist kein Sympathieträger“, sagt der Konstanzer Kultur-Journalist Siegmund Kopitzki in seiner Laudatio. „Wir können uns nicht mit ihm identifizieren, und unser Mitleid gegenüber den chancenlosen Asylbewerbern im Buch hält sich in Grenzen.“ Der Immigrant müsse im Laufe seines Aufenthalts erkennen, dass er sich falsche Vorstellungen vom Leben im reichen Deutschland gemacht habe. „Auch die Leser werden desillusioniert“, so der Germanist, der Adolf Jens Koemeda schon seit rund vierzig Jahren kennt. „Wir haben gemeinsam über Literatur diskutiert, als ich noch Student in Konstanz war“, erzählt er. „Dass ich einmal Jens’ Laudator sein würde, hätte ich nie gedacht.“ Offenkundig brauche es mehr als Integrationskurse, um der Flüchtlingskrise Herr zu werden. ‚Die Absicht’ böte keine Lösung und keinen Anlass zum Optimismus. „Lesenswert ist das novellenartige Prosawerk aber trotzdem.“
Spielte zur Buchpremiere: der Akkordeonist Goran Kovacevic. Bild: Inka Grabowsky
Begleitet von passenden Akkordeonklängen
Wie schon bei früheren Buch-Premieren von Adolf Jens Koemeda umrahmte auch dieses Mal der Akkordeonist Goran Kovačević die Lesung. Er hat selbst Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien. „Meine Eltern kamen 1968 als Gastarbeiter in die Schweiz“, sagt der Musiker, „insofern geht mich das Thema indirekt auch etwas an.“ Passend zu den Textauszügen spielte er eigene Kompositionen, aber auch Brahms’ Ungarischen Tanz Nr. 5. Die rund neunzig Zuhörer im eng besetzen Saat des Rosenegg-Museums dankten es mit begeistertem Applaus.
Termine: Nächste Veranstaltung im Museum Rosenegg passend zum Thema: „Freiheit, die ich meine“. Vernissage zur Sonderausstellung zum Prager Frühling und dem Maler Boleslav Kvapil am 23. März um 18 Uhr. Ausserdem wird vom 26. Mai bis 1. Juni in der „Woche der Erinnerung“ in Kreuzlingen dem Prager Frühling gedacht.
Video zur Lesung im Museum Rosenegg
Von Inka Grabowsky
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