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von Maria Schorpp, 16.05.2019

Eigentlich ist sie sehr viel

Eigentlich ist sie sehr viel
In ihrem Element: Rahel Wohlgensinger in der Produktion «Flow» mit der sie Theater für Kinder ab 2 Jahren macht. | © Theaterwerkstatt Gleis 5

Rahel Wohlgensinger ist eine von fünf Kunstschaffenden, die einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau für 2019 erhalten. Die ausgebildete Puppenspielerin wird damit an ihrem Theater für die ganz Kleinen weiterarbeiten.

„Zweijährige sind noch nicht nett. Sie sind ganz pur.“ Rahel Wohlgensinger weiss das nicht nur von ihren eigenen Kindern. Sie weiss es auch, weil sie mit Kindern arbeitet. Wenn Zweijährige keine Lust mehr haben, fangen sie an zu weinen oder wollen weg vom Ort ihres Überdrusses. Deshalb sind sie das weltbeste Probepublikum. Da gibt es kein Drumherumreden und deshalb auch kein Vertun.

Rahel Wohlgensinger hat sich irgendwann in ihrem Leben einem in der Schweiz noch seltenen Theater-Genre verschrieben, dem „Theater von Anfang an“. Entdeckt hat sie es mit zweien ihrer mittlerweile drei Kinder, als die noch ganz klein waren, bei einem Besuch des Helios Theaters, das in Zürich gastierte. Thema des Kinder- und Jugendtheaters war Holz und seine möglichen Erscheinungsformen. Der zweijährige Sohn, die vierjährige Tochter, sie, die Mama – alle hatten ihre Freude. Da sagte sie sich: „Das will ich auch machen.“

Rahel Wohlgensinger und ihre Puppe, die Gans «Auguste» mit Kindern. Bild: Theaterwerkstatt Gleis 5

Die Auszeichnung? Eine Motivation „weiter zu forschen“, sagt sie

Sie scheint ein Mensch zu sein, der sich Umwege erlaubt. Bevor der Entschluss umgesetzt werden konnte, kam erst einmal das dritte Kind. Dann aber, und auch das passiert wohl öfter in ihrem Leben, gab es ein entscheidendes Zusammentreffen. Eine Freundin aus ihrer Berliner Zeit brachte sie mit Andrea Kilian zusammen, der Regisseurin, mit der sie schliesslich „Flow“ entwickelte, ein Stück, das zeigt, was aus Mehl alles entstehen kann – und dem sich die Ab-Zweijährigen auch ausserhalb der Schweiz seit 2017 staunend hingeben. Der Erfolg der Eigenproduktion wird nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass Rahel Wohlgensinger einen der fünf mit jeweils 25.000 Franken dotierten Förderbeiträge des Kantons Thurgau für das Jahr 2019 erhält.

In der Auszeichnung sieht die Schauspielerin, die mit ihrer Familie in Kreuzlingen lebt, eine Würdigung ihrer Arbeit, die „wahnsinnig motiviert, weiter zu forschen“. Nicht ganz nebenbei auch eine grosse Erleichterung. „Schön wäre es, wenn wir irgendwann wieder ein Stück machen könnten. Jetzt geht es aber erstmal darum, die Arbeit mit Andrea Kilian zu vertiefen und das auch bezahlen zu können.“

Video: Trailer zur Produktion «Flow» von Teresa Renn

Mit 17 dann die Frage: Werde ich Musikerin oder Konditorin?

Eigentlich ist sie Puppenspielerin. Aber was heisst bei Rahel Wohlgensinger „eigentlich“. Eigentlich ist sie nämlich sehr viel – potenziell. Als sie 17 war, wollte sie entweder Musik studieren oder Konditorin werden. Sie hat sich für das Musikstudium in Winterthur entschieden. So eindeutig, wie es heute aussieht, war das wohl nicht. „Ich habe während des Studiums schnell gemerkt, dass es mich noch irgendwo anders hinzieht. Wusste aber ganz lange nicht, zu was.“ Und auch heute noch kann sie das eine machen, ohne das andere auszuschliessen: „Ich wäre vielleicht auch als Konditorin glücklich, hätte aber dann meinen tollen Mann nicht kennenlernen dürfen.“ Der tolle Mann ist Simon Engeli, ebenfalls Schauspieler, wie sie selbst Mitbegründer der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld – und 2003 ebenfalls Nutzniesser eines Förderbeitrags des Kantons Thurgau.

Rahel Wohlgensinger ist Familienmensch. In NZZ Folio erschien 2017 ein Beitrag zu ihrem Leben in Kreuzlingen, der keine Zweifel daran lässt, dass es neben dem Beruf noch Kinder, Mann und Hund Winnie gibt. Ihrer Beschreibung dessen, was „Theater von Anfang an“ für sie bedeutet, wohnt ein tiefes Wissen um die ganz Kleinen inne. „Der Theaterbesuch fängt bei ihnen an, wenn sie in der Kita losgehen. Fahren sie mit der Tram, oder laufen sie? Dann kommen sie ins Theater rein. Ist da eine Tür oder ein Vorhang? Wie werden sie reingeführt, mit Musik oder ohne? Werden sie von einem Schauspieler begrüsst? Man muss sich jeden Schritt genau überlegen.“

«Kinder sind wahnsinnig sensibel. Sie reagieren auf Licht, auf die Umstände, auf Energie, sie brauchen Blickkontakt.»

Rahel Wohlgensinger, Puppenspielerin

Theater für Kinder, die sich später nicht an den Theaterbesuch erinnern. Ein bisschen verrückt findet sie das selbst. Dennoch brennt sie dafür. Die Schauspielerin hat festgestellt, dass man bei den Kleinen sehr genau arbeiten muss. „Sie sind wahnsinnig sensibel. Sie reagieren auf Licht, auf die Umstände, auf Energie, sie brauchen Blickkontakt. Und die Authentizität der Künstler.“ Das hat Auswirkungen auf ihre eigene Arbeit. „Man erfährt sich als Künstlerin noch einmal ganz anders. Ich habe viel gelernt, man geht nicht über den Intellekt an die Dramaturgie ran, sondern wird über die Sinne geleitet. Dank der Kinder lerne ich eine andere Sprache und finde einen anderen Ausdruck.“ Sie will nicht einfach Theater machen für die Kleinen, sie will auch etwas für sich daraus ziehen. Eine Win-Win-Situation sozusagen.

Der Förderbeitrag ermöglicht die Arbeit an einer neuen Produktion

Das verbindet sie mit der Regisseurin Andrea Kilian, mit der sie nun Ideen für „Theater von Anfang an“ weiterentwickeln wird, an deren Ende möglicherweise irgendwann eine neue Produktion steht. Naturmaterialien, die Klänge erzeugen, könnte ein neues Thema sein. Die Musikerin Andrea Zuzak und der Geräuschemacher Max Bauer sind mit dabei. Durch den Förderbeitrag wird es möglich, dass sie auch ein Honorar bezahlen kann.

Die Finanzierung von Projekten kennt Rahel Wohlgensinger, seit sie Theater macht. Ein festes Engagement hatte sie nur einmal, am Konstanzer Stadttheater als Puppenspielerin. Ein Metier, zu dem sie ebenfalls durch eine entscheidende Begegnung gekommen ist. Nach dem Querflötenstudium in Winterthur zog es sie an die Scuola Teatro Dimitri, die Schauspielschule in Verscio im Kanton Tessin, die vor allem auf Bewegungstheater setzt. Da sie feststellen musste, dass ihr akrobatisches Talent mit dem Purzelbaum ausgeschöpft war, ging sie wieder auf die Suche und stiess auf einen Regisseur, der ihr das Puppentheater nahelegte. Auch ihren Mann traf sie an der Scuola des Clowns Dimitri. Nach einem Gastaufenthalt in der Puppentheaterszene Prags begann sie ihre Ausbildung in der Abteilung Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin.  

Mit Hasen und Ehemann: Rahel Wohlgensinger spielt im «Sängerkrieg der Heidehasen» gemeinsam mit Simon Engeli. Bild: Michael Lünstroth

Gerade spielt sie sehr erfolgreich im «Sängerkrieg der Heidehasen»

Puppenspielerin ist sie bis heute. Gerade ist eine neue Produktion angelaufen: „Der Sängerkrieg der Heidehasen“, ein grosser Spass im Innenhof des Thurgauer Naturmuseums in Frauenfeld. Dort spielt sie mit ihrem Mann Simon Engeli: „Ich arbeite viel mit Simon zusammen, familientechnisch ein organisatorisches Wunderwerk, aber immer wieder sehr befriedigend.“ Regie führt Giuseppe Spina, auch ein Gründungsmitglied der Theaterwerkstatt Gleis 5. Aber das ist eine andere Geschichte von Rahel Wohlgensinger und einer glücklichen Fügung.

Die Förderbeiträge und die Serie

Einmal im Jahr vergibt der Kanton Thurgau persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau. In diesem Jahr gehen die mit jeweils 25.000 Franken dotierten Beiträge an fünf verschiedene Künstlerinnen und Künstler. Ausgezeichnet werden in diesem Jahr Usama Al Shahmani (Autor, Frauenfeld), Samir Böhringer (Musiker, Lengwill), Johannes Keller (Musiker, Basel), Alex Meszmer / Reto Müller (bildende Künstler, Pfyn) und Rahel Wohlgensinger (Theaterschaffende, Kreuzlingen).

 

Die Serie: Alle ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler stellen wir in einer Porträt-Serie vor. Bereits erschienen sind: 

 

(1) «Ich bin im Herzen ein Theatermensch»: Usama Al Shahmani im Porträt

(2) Auf der Suche nach dem eigenen Stil: Samir Böhringer im Porträt

(3) Auf dem Weg zum Cyber-Barock: Johannes Keller im Porträt

(4) Eigentlich ist sie sehr viel: Rahel Wohlgensinger im Porträt 

(5) Die Gegenwarts-Archäologen: Das Künstler-Duo Meszmer/Müller

 

Anders als in den vergangenen Jahren werden 2019 nur 5 statt 6 Förderbeiträge vergeben. Das liegt daran, dass in diesem Jahr auch das Atelierstipendium in New York City vergeben wurde. Es geht an Rhona Mühlebach und Reto Müller. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, welche sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt.

 

Preisverleihung: Einen Bericht zur Preisverleihung vom 21. Mai 2019 im Theaterhaus Thurgau gibt es hier.

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