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von Andrin Uetz, 22.11.2024

«Eine Knochenarbeit, die mich bereichert!»

«Eine Knochenarbeit, die mich bereichert!»
Wer schreiben will sollte auch viel lesen. Hier im Café Prückl in Wien. | © Aaron Chaudhry

Wie wir arbeiten (4): Andrin Uetz ist unser Experte für Pop- und Jazzmusik. Hier beschreibt er nach welchen Kriterien er Projekte bewertet und was das mit seiner eigenen Erfahrung zu tun hat. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Die Frage, wie ich arbeite, kann auf mehreren Ebenen beantwortet werden. Da ist einerseits der Arbeitsalltag, also eher die Frage wie und wo die Arbeit überhaupt stattfindet. Dabei geht es auch um die Arbeitsbedingungen im (freien) Kulturjournalismus.

Als zweiten Punkt versuche ich offenzulegen, worauf ich bei der Beurteilung von Kunst achte und was mir dabei wichtig ist. Abschliessen will ich mit einem kleinen Plädoyer für den Kulturjournalismus, worin ich betone, worin ich den gesellschaftlichen Wert unserer Arbeit sehe. 

Arbeitsalltag und Gig-Economy 

Die Arbeit für einen Artikel beginnt zumeist mit einer E-Mail aus der Redaktion. Hast Du Zeit und Lust Dir dieses oder jenes Album anzuhören? Ein Konzert zu besuchen? Ein Interview zu führen?  Ich schaue auf den Terminkalender, höre kurz in die Musik rein und sage dann meistens: ja.

Da ich als neben dem Kulturjournalismus auch als Musiker und Veranstalter arbeite, habe ich nur bedingt sowas wie regelmässige Bürozeiten. Wann ich für den jeweiligen Artikel zu arbeiten beginne, ist daher ganz unterschiedlich. Zuerst nehme ich mir genug Zeit um die Musik zu hören, was auch gerne während dem Kochen oder Unterwegs passieren kann. Ich recherchiere zum Projekt, zur Band, zu den involvierten Personen. Wenn möglich besuche ich ein Konzert. 

 

Wie wir arbeiten - darum geht es in dieser Serie

In der Serie „inside thurgaukultur.ch – wie wir arbeiten“ schreiben unsere Autor:innen über ihren Arbeitsalltag. Sie erklären, wie sie sich für ihre Termine und Texte vorbereiten, auf welchen Wegen sie recherchieren und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen. Wir öffnen damit bewusst die Tür zu unserer Werkstatt, damit du besser nachvollziehen kannst, wie wir arbeiten und welche Kriterien uns in unserem Tun leiten.

Damit sollen einerseits unsere Autorinnen und Autoren sichtbarer werden, zudem wollen wir die Bedeutung von Kulturjournalismus damit herausstellen. Denn es stimmt ja immer noch, was Dieter Langhart im Mai für uns geschrieben hat: „Ohne Kulturjournalismus keine Abbildung und Einordnung von Kultur.“

Alle Teile der Serie bündeln wir in einem Dossier.

Artikel entstehen auch beim Spaziergang

Ein Artikel wird jeweils pauschal vergütet und daher sollte ich mit der Arbeitszeit gut wirtschaften, aber bei der Recherche nehme ich das nicht so streng, da ich dabei auch viel lerne und das als Bereicherung wahrnehme. Im Idealfall kann ich die Kunst ein zwei Tage auf mich wirken lassen und mir dabei ein paar Notizen machen. Im Kopf skizziere ich den Artikel bereits beim Spaziergang oder beim Blick aus dem Fenster. 

Dann setze ich mich an den Laptop und schreibe. Hier beginnt die Knochenarbeit und spätestens dann tickt die Uhr, wobei der Stundenlohn mit jeder Minute prekärer wird. Wenn ich bedenke, dass ich hier eigentlich auch meine Ferien- und Krankheitstage mit verrechnen muss, hätte ich den Job gar nicht annehmen dürfen. (Weshalb ich es dennoch mache, erkläre ich später im Text). 

„Wenn eine subjektive Musikkritik gelingt, dann kann sie das Gegenüber nachvollziehen und dennoch anderer Meinung sein. Das Beste, was mir als Kritiker passieren kann, ist, dass es bei unterschiedlichen Ansichten zu einer Diskussion kommt.“

Andrin Uetz, Musiker und Autor

Für einen guten Artikel muss ich mit vier konzentrierten Stunden am Laptop rechnen, wobei dafür in der Regel inklusive Recherche ein ganzer Arbeitstag drauf geht. Nicht selten wird es spät abends, bis ich den Artikel dann in die Redaktion schicke. 

Was ich dafür schätze ist die grosse Flexibilität. Ich kann auch auf Tour oder auf Reisen schreiben, im Bett oder im Zug. (Diese Zeilen verfasse ich im IR37 von Basel nach Zürich an einem Freitag Abend, der gleichzeitig Abgabetermin dieses Textes ist.) 

Subjektivität? Ja bitte, unbedingt!  

Nun aber endlich zur interessanteren Frage: Wie beurteile ich überhaupt, was gute Musik ist? Warum schreibe ich Kritiken? Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten… 

Dem stimme ich zwar zu, aber gerade das ist ja der springende Punkt: Streiten ist gesund, es ist ganz wichtig, dass wir unsere Differenzen offen zur Sprache bringen und uns darüber austauschen. Natürlich muss nicht jeder Text eine Kritik sein, oft handelt es sich vielmehr um Portraits oder Interviews. Es ist nicht nötig, dass ich immer alles beurteile und gerade bei Projekten, die mich nicht besonders überzeugen, verfasse ich lieber eine Homestory aus dem Proberaum als eine Plattenkritik. 

Was Kritiken leisten sollten

Wenn es aber zu einer Rezension kommt, ob positiv oder negativ, so setzt das eine intensivere Auseinandersetzung mit der jeweiligen Musik voraus. Ich schreibe ja nicht einfach, diese Musik ist genial oder jenes Album ist Quark. Ich versuche mich in die Projekte hineinzudenken: Warum wird etwas so oder so gemacht? Versuche musikhistorisch, stilistisch sowie gesellschaftlich zu verorten. 

Selbstverständlich fusst mein Urteil auf meinem eigenen, bescheidenen Erfahrungshorizont. Nur weil ich etwas gut oder weniger gut finde, heisst das nicht, dass das auch so ist. Aber das schöne an der Kritik ist, dass sie die Subjektivität sprachlich greifbar und nachvollziehbar macht. Eine Rezension sagt wohl fast gleichviel über den:die Verfasser:in aus, als über die Kunst selbst. Unterschiedliche Personen hören die gleiche Musik in verschiedener Weise. 

 

Die eigene Bühnenerfahrung hilft dabei, die Praxis anderer Musiker:innen besser einzuordnen. Hier mit Karl Kave & Durian am Echolot Festival in Luzern. Bild: Marcel Vogler

Worauf ich besonderen Wert lege

In meinem Fall gibt es drei Dinge, die mir sehr wichtig sind und die mein Urteil massgeblich beeinflussen: Erstens die Eigenheit eines Projektes. Dabei geht es mir nicht unbedingt um die vielbeschworene Authentizität, da ich diese Engführung von Kunst und Person nicht immer zwingend  finde. 

Es muss auch nicht unbedingt etwas noch nie da gewesenes geschaffen werden. Das ist heute ohnehin fast unmöglich. Vielmehr geht es mir um dieses subtile Moment der Idiosynkrasie, in der die künstlerische Praxis irgendwie mit einem inneren Schaffensdrang korreliert. 

Wie stilsicher ist das Projekt und nimmt es Bezug zur Gesellschaft?

Als zweiten Punkt würde ich eine gewisse Stilsicherheit nennen. Dabei geht es nicht primär um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Musikstil, sonder um ein Gespür für Stimmungen und Atmosphäre. Das kann eine passende Kombination von Drummachine und Synthesizer sein, oder ein Phrasing im Gesang, welches zum Songtext passt. 

Und last but not least findet für mich Musik immer auch in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Das heisst nicht, dass gute Musik eine politische Aussage haben muss oder Künstler*innen irgendwelche Statements in ihre Musik einbauen müssen. Es kann sogar spannend und gerade deshalb so überzeugend sein, weil ein Ensemble für alte Musik im Elfenbeinturm irgendwelche fast verschollenen Neumen aus dem Spätmittelalter zu neuem Leben erweckt ohne sich von aktuellen Tagesgeschehen ablenken zu lassen. 

Aber gerade Jazz- und Popmusik sowie viele ihrer Spielarten waren zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung oft eng mit Subkulturen und Bürgerrechtsbewegungen verbunden und können auch heute nicht ganz losgelöst davon praktiziert werden. Gleichzeitig findet Musik immer im Kontext der aktuellen Weltlage statt. Wenn es einer Musik gelingt, irgendwie nach Gegenwart oder einem Lebensgefühl zu klingen, ist schon vieles gewonnen. 

 

Mehr Musikkritiken und Texte von Andrin Uetz lesen

Wenn dich dieser Text neugierig gemacht hat und du jetzt mehr von Andrin lesen willst, dann schau mal hier. Auf dieser Seite haben wir alle seine Beiträge für thurgaukultur.ch gebündelt.

Gesellschaft braucht Diskurs 

Aus dem ersten Abschnitt wurde wohl schon klar, dass der Kulturjournalismus ein relativ prekäres Arbeitsfeld ist. In meinem Fall ist es eher etwas, das ich mir leiste, als etwas, was verlässlich meine Miete zahlt. Es ist aber eine Arbeit, die es mir erlaubt, mich intensiv mit anderen Menschen auseinander zu setzen. 

Der Anspruch einen guten Artikel zu schreiben zwingt mich dazu, genau hinzuhören und mich nicht mit Vorurteilen und Klischees zu begnügen. Das ist einerseits für mich selbst eine Bereicherung und ich lerne mit jeder Rezension, erweitere stetig meinen Horizont. 

Was guter Kulturjournalismus leisten kann

Andererseits trägt guter Kulturjournalismus, zumindest im Idealfall, etwas zum gesellschaftlichen Diskurs bei. Gerade in der Kunst ist es möglich, die Differenz und die Zwischentöne zu feiern und damit der sich mehr und mehr verschärfenden gesellschaftlichen und politischen Spaltung unserer Gegenwart etwas entgegenzuhalten. 

Das unterscheidet eine subjektive Musikkritik von einem ideologischen Dogma: Wenn sie gelingt, dann kann sie das Gegenüber nachvollziehen und dennoch anderer Meinung sein. Das Beste, was mir als Kritiker passieren kann, ist, dass es bei unterschiedlichen Ansichten zu einer Diskussion kommt. Meistens höre ich danach die Musik nochmals mit ganz anderen Ohren. Eine Bereicherung.

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