von Brigitte Elsner-Heller, 22.11.2021
Facetten der Wirklichkeit
Verliebt in die Verfremdung: Sarah Hugentobler, Olga Titus und Kyra Tabea Balderer zeigen im Steckborner «Haus zur Glocke» die Welt, wie sie auch sein könnte. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Den ersten Auftritt hat natürlich immer dieses Haus: das Haus zur Glocke in Steckborn. Dass es übrig geblieben ist aus einer anderen Zeit, beruhigt ein wenig. Nährt es doch die Illusion, dass es Dinge gibt, die bleiben. Wie auch in der Kunst, die sich aus dem Neuen heraus definiert, dabei aber aus dem lebt, was schon immer war.
„Imitationen von dir wiederholen sich in mir“ nennen die drei Künstlerinnen ihre Ausstellung (nach einer Liedzeile der deutschen Band Tocotronic) dann auch – wobei sie damit auf die gemeinsame Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten abheben, die sie als Verbindung aus Realem und Imaginiertem sehen und damit in der Verfremdung dessen, was vielleicht wirklich ist, es zumindest aber sein könnte.
Erste Frage: Was für eine Welt ist das hier?
Sarah Hugentobler, Olga Titus und Kyra Tabea Balderer sind die Protagonistinnen dieser künstlerischen Inszenierung der „Wirklichkeit“, die vom 20. November bis 11. Dezember 2021 zu sehen ist. Sarah Hugentobler, stammt ursprünglich aus dem Thurgau, lebt heute aber in Bern, hat die Organisation der gemeinsamen Ausstellung übernommen.
Die Frau mit den langen dunklen Haaren begegnet einem schon im Erdgeschoss des Hauses gleich noch einmal – beziehungsweise sogar vielfach. Denn an der Stirnwand läuft eine Videoarbeit, in der eine Frau mit silberblondem Haar ein denkwürdiges Dasein fristet: Sie sitzt als Interviewerin einer identisch aussehenden Person gegenüber, die offenbar Erklärungen liefert. Aber worüber?
Fremdheit in bekannt anmutenden Szenarien
Die Ästhetik läuft auf ein kühles, lebloses Grau hinaus in einem Raum, der keinerlei Wärme ausstrahlt. Die zweite Person scheint ein Mann zu sein, zumindest deutet dies die Stimmlage an. Dann weitere kühle Räume ohne weiteres Interieur, Strukturen, die sich bewegen, sich sogar vervielfachen und zu dynamischen Mustern entwickeln. Welche Welt ist dies?
Sarah Hugentobler arbeitet mit vorgefundenem Material in ihren Videos, benutzt Fotos aus Katalogen und Anzeigen – die wohl selbst schon nicht ein reales Setting fotografisch abbildeten, sondern digital entworfen wurden. Sarah Hugentobler benutzt sie als Bühne für ihre Figuren, die sie alle selbst spielt.
Die Untersuchung des Chor-Raumes
Und was der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin eben noch erläuterte: Auch dies waren Schnipsel aus einem Radiointerview mit einem Paläontologen, der nun plötzlich zur kompetent klingenden, aber inhaltsleeren Sprechblase verkommt. Sarah Hugentobler hat für das Video den Text selbst mitgesprochen, um die Lippenbewegungen zu synchronisieren.
Teaser zu Sarah Hugentoblers Arbeit «Labor»
Auch in den Obergeschossen finden sich Videos, die aus der Beschäftigung mit abstrakten Formen hervorgegangen sind, die bewegt und vervielfacht werden. Drei Tablets hat sie in Winkeln des Hauses versteckt, eines davon in einem Kachelofen, der einen dreidimensionalen Rahmen bildet. Wobei in einer Raumecke dann ein Chor erklingt: Drei „Sängerinnen“ (Sarah Hugentobler) stimmen den Beatles-Song „Because“ an.
„Der Chor als Anordnung hat mich schon immer interessiert“, sagt Sarah Hugentobler. „Alle sind gleich und doch Individuen“. Auch hier ist der Soundtrack – der Windgeräusche mit einschliesst – vorgefundenes Material, die uniform gekleideten „Sängerinnen“ als Hugentobler-Figuren erfunden.
Fotografie kann auch anders
Das Spiel mit der Ästhetik, die ein ambivalentes Verhältnis zur erfahrenen Wirklichkeit hat, ist allen drei Künstlerinnen gemeinsam. Kyra Tabea Balderer, in Zürich geboren und nach Jahren in Berlin nun wieder in Zürich ansässig, geht den Weg in umgekehrter Richtung wie Sarah Hugentobler.
Ihr Hauptmedium ist die Fotografie, wobei sie diese so inszeniert, dass ein Bezug zur digitalen Bearbeitung von Fotos hergestellt wird. Was zunächst wirkt, als sei es am Rechner entstanden, ist handwerkliche Arbeit. Überblendungen und Verfremdungen sind auf der Basis von Collagen entstanden, die sie abfotografiert.
Die Vervielfältigungen im Spiegel
Auch bei ihr spielen Vervielfältigungen eine Rolle, wobei sie reale Szenen baut, in die sie Spiegel einfügt. Farbe tritt stets als starker Begleiter der Strukturen auf, die farbliche Gestaltung der Rahmen unterstreicht dies noch. Dem fotografischen Akt folgt der Handabzug, und der Bezug zur Malerei ergibt sich bei ihren Arbeiten auch dadurch, dass Erinnerung an den Kubismus geweckt werden.
Plastische Objekte dienen nicht nur der Gestaltung von Bühnen für die Fotografie, sondern können auch selbstständig auftreten. Wie in Bronzegüssen, die nicht als kostbare Werke auftreten, sondern durchaus „arm“, als wären sie aus Pappe gefertigt.
Textildesign als Ausgangspunkt
Olga Titus, aufgewachsen im Thurgau, heute in Winterthur zu Hause, ist für ihre farbfreudigen Videos bekannt, in denen sich Paradiesgärtchen um sich selbst drehen. Kaleidoskop-artig wandern die Bruchstücke von gemusterten Bildern über das Giebelgebälk des Dachstockes im Haus zur Glocke. Wobei das Wort „über“ zu relativieren ist: In die Videoprojektion ist ein passendes Raster eingefügt, das verhindert, dass die Holzbalken selbst auch von der Projektion beleuchtet werden.
Der vermeintliche Paradiesgarten nimmt Bezug auf textile Muster bzw. die Geschichte der Textilindustrie in der Ostschweiz. Für Olga Titus ist die Beschäftigung mit der Textilindustrie auch ein autobiografisches Projekt: Sie wurde in Glarus als Tochter einer Bündnerin und eines Inders geboren, der in 2. Generation in Malaysia lebte. Aus Indien wurden im Zuge der Kolonialherrschaft Stoffmuster wie das Paisley-Muster (eingerolltes Palmblatt) zunächst nach Holland gebracht und gelangten dann auch in die Textilindustrie der Schweiz.
Olga Titus‘ Arbeiten leuchten
Nicht nur in ihrem Video zeigt Olga Titus nun die Aneignung und Veränderung der Muster. Auch das „Glarner Tüechli“ mit seinem umlaufenden Paisleymuster wird ihr zum aussagekräftigen Anschauungsobjekt voller Farbkraft. Wenngleich nur zurückhaltend koloriert, leuchtet eine Arbeit von ihr von einer Wand im Obergeschoss.
Auf einer dünnen Aluplatte hat sie durch Strukturprägung Zeichnungen hinterlassen, denen ein wenig verwischte Farbe beigegeben wurde. Den Rahmen dazu bildet – wen wundert es – mal wieder eine Wand des Hauses zur Glocke. Alte Tapete, Farbe, Mauerwerk.
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