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von Markus Schär, 23.09.2019

«Historiker sind keine Richter»

«Historiker sind keine Richter»
Roland Kuhn mit zwei Pflegerinnen vor dem Medikamentenschrank 1967 | © Staatsarchiv_des_Kantons_Thurgau

Mit einem Buch über die «Menschenversuche» in Münsterlingen bewältigt der Kanton Thurgau einen weiteren Skandal, für einmal vorbildlich, findet unser Autor Markus Schär.

Die «Menschenversuche von Münsterlingen» prangerte im Februar 2014 der Beobachter an. Auch die Journalistinnen von Tagesanzeiger und Thurgauer Zeitung zeterten wegen der Tests mit «nicht zugelassenen Medikamenten», die der renommierte Arzt Roland Kuhn in der Psychiatrischen Klinik des Kantons Thurgau jahrzehntelang gemacht hatte. Und kaum jemand im Mediensturm wandte noch ein, dass es für die Zulassung neuer Medikamente zwingend Menschenversuche, also Studien mit Patienten braucht.

Über die ahnungslose Skandalisierung hinaus warf das Wirken von Prof. Dr. Dr.h.c.mult. Roland Kuhn aber wichtige Fragen auf: Mit wieviel vielleicht auch unnötigem Leid für die Patienten erkaufte der Arzt den Segen für die Menschheit, die Entdeckung des ersten Antidepressivums? Wie hielt er es mit den besten ärztlichen Praktiken und der staatlichen Regulierung seiner Zeit? Und was trieb ihn bei seinem rastlosen Forschen an – der Helferwillen, der Ehrgeiz oder nur die Gier nach dem Geld der Basler Chemie?

Prof. Dr. Marietta Meier, Leiterin des Forschungsteams der Universität Zürich, präsentiert die Erkenntnisse der Forschung vor den Medien. Weiter auf dem Bild v.l.n.r. Regierungsrat Walter Schönholzer, Staatsarchivar André Salathé, Regierungspräsident Dr. Jakob Stark, Dr. Magaly Tornay, Mitglied des Froschungsteams. Bild: zVg

Es kommt Licht in einen düsteren Winkel der Kantonsgeschichte

Diese Fragen lassen sich jetzt beantworten, vor allem dank André Salathé, dem Thurgauer Staatsarchivar, der sich seit je auch um mehr Licht in den düsteren Winkeln der Kantonsgeschichte bemüht. Er überzeugte die Familie von Roland und Verena Kuhn-Gebhart – sie arbeitete als Psychiaterin eng mit ihrem Mann zusammen –, den wissenschaftlichen Nachlass dem Staatsarchiv anzuvertrauen. Und er gewann den Regierungsrat dafür, ein Forschungsprojekt auszuschreiben, damit ein interdisziplinäres Team den Quellenschatz in 45 Laufmetern Archivschachteln auswertete.

Was die auf Psychiatriegeschichte spezialisierten Historikerinnen Marietta Meier und Magaly Tornay zusammen mit dem im April verstorbenen Wirtschaftshistoriker Mario König herausfanden, legen sie im Band «Testfall Münsterlingen» vor: ein – um das Urteil vorwegzunehmen – rundum überzeugendes Buch, das den Ansprüchen der Wissenschaft genügt, ja wichtige Erkenntnisse bietet und spannende Anstösse gibt, aber klar aufgebaut und gut geschrieben auch die Fragen des Publikums beantwortet.

Autoren versuchen, die damaligen Vorgänge zu verstehen

Das Forscherteam bemühte sich redlich darum, was jede Geschichtsschreibung anstreben muss, die diesen Namen verdient: Es wollte die zweifellos frag-würdigen Vorgänge in Münsterlingen nicht, wie die Medien, mit der heutigen Befindlichkeit verschreien, sondern auf ihrem damaligen Hintergrund verstehen. Es sei wichtig, betonen die Autoren, «klinische Versuche nicht an scheinbar selbstverständlichen, unveränderlichen Kriterien zu messen, sondern diese ebenso zu historisieren wie die Prüfungen selbst». Oder kurz: «Historikerinnen und Historiker sind keine Richter; sie beurteilen, urteilen aber nicht.»

Mit dieser Haltung vergrub sich das Trio, anfangs unterstützt von zwei akademischen Nachwuchskräften, drei Jahre lang in den Archiven. Dies nicht nur in Frauenfeld, bei «ausgezeichneter Quellenlage» dank dem Nachlass «von unschätzbarem Wert», sondern auch in Basel bei Novartis, weil Roland Kuhn vorwiegend mit den Vorgängerfirmen Ciba, Geigy, Sandoz und Wander zusammenarbeitete. Hier gab es Probleme, nicht wegen schlechten Willens, wie die Historiker meinen, sondern wegen schwieriger Archivführung aufgrund der Fusionen.

Restbestände aus der Klinik Münsterlingen: 25 000 Dragées G 35259 Ketimipramin à 60 mg. Bild: zVg

Mehr als 50 Gespräche mit Zeitzeugen

Die Forschungsarbeit drehte sich so um eine Datenbank, in der sich alle Informationen zu den Testsubstanzen mit jenen zu den Prüfpatienten verknüpfen liessen. Darauf gestützt konnte das Team eine Stichprobe von rund 150 Personen mit ihren Krankenakten bearbeiten: «Dies ist etwa ein Achtel der Fälle, die im Nachlass Kuhn verzeichnet sind, ein Bruchteil der Patienten, denen Prüfsubstanzen verabreicht, und ein noch kleinerer Bruchteil der Personen, die zwischen 1945 und 1980 in Münsterlingen behandelt wurden.» Dazu kamen über fünfzig Gespräche mit Zeitzeugen, auch mit Betroffenen.

Die Antworten, die das Team nach diesem Effort vorlegt, fallen differenziert aus. Dies schon bei den quantitativen Angaben: «In Münsterlingen wurden mindestens 67 Substanzen getestet; zählt man auch Mehrfachprüfungen und Stoffe, bei denen unklar ist, ob nach der Anfrage oder Lieferung ein Versuch erfolgte, sind es fast 120», stellen die Forscher fest. Und: «In die Prüfungen waren weit über tausend Patientinnen und Patienten involviert. Zu bestimmten Zeiten muss über die Hälfte der Klinikpopulation Versuchspräparate erhalten haben.» Darüber hinaus gibt es, zumal Roland Kuhn in seinen Unterlagen von 2789 Fällen sprach, wohl eine deutlich höhere Dunkelziffer.

Manches bleibt offen, Autoren bemühen sich um Fairness

Auch bei den ethischen Fragen bleibt einiges offen, die Autorinnen bemühen sich aber um faire Darstellungen und Wertungen.

Zur Entwicklung der Psychopharmaka:In den Irrenanstalten, wie auch die 1839 gegründete Klinik in Münsterlingen anfangs hiess, herrschten bis nach dem Zweiten Weltkrieg bedrückende Zustände. Die Ärzte behandelten ihre Patienten zumeist mit Elektroschocks, in schweren Fällen auch per Lobotomie, bei der sie Nervenbahnen im Gehirn durchtrennten. Diese massiven Eingriffe liessen sich dank den Medikamenten vermeiden, die Leiden der Kranken in vielen Fällen lindern.

Roland Kuhn, 1939 als Oberarzt nach Münsterlingen gekommen, begann 1946 seine Zusammenarbeit mit Geigy und entdeckte 1956, dass Tofranil, das gegen Schizophrenie getestet worden war, bei Depressiven wirkte, als weltweit erstes Antidepressivum. Danach führte er die Versuche bis zu seiner Pensionierung als Klinikdirektor 1980 weiter, in seiner Privatpraxis auch darüber hinaus. Wie er dabei in seinem «pharmakologischen Optimismus» vorging, erklärte der Arzt 1987 einem Medizinhistoriker: «Wir haben immer mit Patienten begonnen, die schwer unter ihren Krankheiten litten und die wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht bessern konnten. Dann hat man ihnen gesagt, wir hätten ein neues Medikament, das vielleicht doch noch helfen könnte.»

Luftaufnahme Klinik Münsterlingen. Bild: Staatsarchiv des Kantons Thurgau

Roland Kuhn verzichtete auf Einwilligungserklärung seiner Patienten 

Zur Durchführung der Versuche: Die Studien mit neuen Präparaten sind heute so streng reguliert, dass Kritiker meinen, die Bürokratie behindere, ja verhindere das Entwickeln von Erfolg versprechenden Therapien. Solche Regeln gab es in den ersten Jahrzehnten von Roland Kuhns Tätigkeit nicht; ein Bewusstsein dafür wuchs erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der schrecklichen Menschenversuche von Ärzten in Konzentrationslagern heran. Die Deklaration von Helsinki von 1964 und auch die Schweizer Richtlinien für Versuche am Menschen von 1970 forderten deshalb eine informierte Einwilligung der Patienten. Roland Kuhn nahm diese Vorgaben aber kaum zur Kenntnis – damit war er, wie die Autorinnen meinen, «bei weitem nicht der einzige Arzt».

Problem: Alltägliche Grenzüberschreitungen

«Problematisches», stellen sie fest, «liegt vor allem in feinen Diskrepanzen, in alltäglichen Grenzüberschreitungen.» So kam es vor, dass der Arzt aus Zeitdruck auf Vorabklärungen verzichtete oder bei einer Patientin eine gefährliche Substanz aus Vorsicht absetzte, aber einen anderen Patienten in die Versuchsreihe aufnahm. Immerhin hatte Roland Kuhn gute Argumente, weshalb er sich nicht an die Vorgaben hielt. Nach der Einwilligung fragte er meist nicht, um das Behandlungsergebnis nicht durch Erwartungen zu verfälschen. Und die heute geforderten Doppelblindstudien mit Kontrollgruppe – der Patient und auch der Arzt wissen nicht, ob ein Medikament oder ein Placebo verabreicht wird – lehnte er ab, weil er es unethisch fand, schwer leidende Patienten nicht mit dem besten Mittel zu behandeln, dies im Einklang mit vielen Kollegen. So meinen die Forscherinnen: «Die Einwilligungspolitik in Münsterlingen fiel im zeitgenössischen Vergleich wohl kaum stark aus dem Rahmen.»

Zur Motivation des Arztes: Gerade wegen der rigorosen Regulierung gehen die Kosten für Medikamentenstudien heute in die Milliarden; das führt zu fragwürdigen Anreizen für Konzerne und Kliniken. Dieses Milliarden-Business gab es zu den Zeiten von Roland Kuhn noch nicht. Der Arzt arbeitete in Münsterlingen anfangs für einen kargen Lohn, «wenig über dem Durchschnittsverdienst eines kaufmännischen Angestellten». Und er setzte die Versuchspräparate aus der Basler Chemie auch ein, um für die Klinik, also den Kanton Medikamentenkosten zu sparen. Erst 1959 erhielt er nach dem Erfolg mit Tofranil einen Bonus, ab 1964 belief sich dieser auf jährlich 60’000 Franken. «Roland Kuhn wurde mit seiner klinischen Forschung wohlhabend», wissen die Autoren. «Total beliefen sich seine Forschungseinkünfte auf rund acht Millionen Franken (in Preisen von 2015 ausgedrückt).»

«Forschungsinteresse und finanzielle Motive lassen sich bei Kuhn kaum voneinander trennen.»

Zitat aus der Untersuchung   

Die Frage nach der persönlichen Motivation können sie aber nicht abschliessend beantworten: «Forschungsinteresse und finanzielle Motive lassen sich bei Kuhn kaum voneinander trennen.» Der Arzt strebte nach Renommee; er suchte auch den Austausch mit den geistigen Grössen seiner Zeit. Und er glaubte in seinem Optimismus wirklich und wohl zu recht, mit Psychopharmaka der Menschheit helfen zu können – mochten auch einzelne Menschen unter ihrer Entwicklung leiden.

So beantwortet das Autorentrio die Fragen, die sich ihm stellten, so präzise wie möglich und so differenziert wie nötig, dank dem einzigartigen Quellenschatz, den es bearbeitete, auch wegleitend für Forschung anderswo. Für einmal hat der Kanton Thurgau also einen Skandal vorbildlich bewältigt. Und die letzten Schlüsse müssen alle selber ziehen: «Wir gehen von mündigen Leserinnen und Lesern aus, die sich eine eigene Meinung bilden.»

Das Buch «Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980» erscheint im Chronos-Verlag. Details dazu gibt es auf der Internetseite des Verlages.

Gewann den Regierungsrat dafür, das Forschungsprojekt auszuschreiben: Staatsarchivar André Salathé. Bild: Sascha Erni

 

Zeichen der Erinnerung

An der Medienkonferenz hat sich Regierungspräsident Jakob Stark im Namen der Thurgauer Regierung entschuldigt: «Der Regierungsrat entschuldigt sich bei allen Betroffenen von Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen.» Das gelte vor allem auch für jene, die besonders vulnerablen Patientengruppen zuzurechnen seien. Denn bei den Medikamententests wurden auch Kinder, Jugendliche sowie Schwerst- und Chronischkranke einbezogen. Insgesamt hat der Regierungsrat für das Forschungsprojekt 750 000 Franken aus dem Lotteriefonds bewilligt. 

 

Nebst der Entschuldigung bei den Betroffenen hat sich der Regierungsrat entschieden, ein weiteres Zeichen zu setzen, ein «Zeichen der Erinnerung». Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 fordert die Kantone auf, den Betroffenen die Ehre zu erweisen Das  «thurgauische Zeichen der Erinnerung» ist geplant auf dem ehemaligen Spitalfriedhof von Münsterlingen. Dieser wird partiell restauriert und unter Schutz gestellt. Gleichzeitig wird auf dem Gelände des Massnahmenzentrums Kalchrain ein Partnerzeichen der Erinnerung errichtet. 

 

Für das «Zeichen der Erinnerung» hat der Regierungsrat einen Wettbewerb im Einladungsverfahren unter Künstlerinnen und Künstlern genehmigt. Mit der Durchführung des Wettbewerbs wurde eine Jury beauftragt, die von alt Regierungsrat Claudius Graf-Schelling präsidiert wird. Das Ziel ist es, die Zeichen in spätestens eineinhalb Jahren zu enthüllen. 

 

 

 

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