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von Judith Schuck, 09.09.2024

Bin ich gut genug?

Bin ich gut genug?
Hoa Luo wickelte die vier Säulen am Pavillon zusammen mit Mirjam Wanner und Marina Schütze in Wolfortstrümpfe. | © Judith Schuck

Hoa Luo erforschte während ihres Sommerateliers im Frauenpavillon St. Gallen, wie es sich anfühlt, dem eigenen Leben freundlicher zu begegnen. Gemeinsam mit anderen Kulturschaffenden begab sie sich auf eine psychologische Reise. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Die Idee war, mit Frauen einen Raum zu teilen, wo alle authentisch sein können. Egal wie verspielt, egal wie viele Fehler gemacht werden. Dieses Konzept setzte die Künstlerin Hoa Luo gemeinsam mit Kolleginnen während einem Monat im Frauenpavillon im St. Galler Stadtpark um. Vis à vis vom Kunstmuseum liegt der Frauenpavillon, der seit 2021 Ostwschweizer Künstlerinnen als Sommeratelier zur Verfügung gestellt wird.

Gestützt wird der Vorbau des kleinen Gebäudes von vier kräftigen Säulen. Als Hoa Luo im Oktober 2023 mit dem Konzeptentwurf begann, kannte sie zunächst den Aussen-, nicht den Innenraum. Die vier tragenden Säulen inspirierten sie zum Modell der vier psychologischen Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe: Selbstwert, Kontrolle, Lust und Verbindung.

Grundbedürfnisse in Balance

„Sind die Grundbedürfnisse in Balance, führt das zu Glück und Stärke“, erklärt die Künstlerin aus Flawil bei einem Gespräch vor dem Pavillon bei spätsommerlichem Wetter mit Blick auf das Treiben im Park. Ziel für ihren Atelieraufenthalt, war, diese vier Zustände zu erforschen und sich mit anderen Kunstschaffenden und Besucher:innen auf eine „tiefgreifende Reise“ zu begeben.

Und ja, der Ausstellungstitel lädt ein zum Umdenken und Überdenken für einen Weg zu mehr Zufriedenheit im Leben: „What if – You have what it takes? – It all works out?“ Was wäre, wenn du alles hast, was du brauchst, wenn alles, was du machst, gut genug ist?

 

Hoa Luo, Mirjam Wanner und Marina Schütze bei der Vernissage. Bild: Patrik Muchenberger

Es ist genug, wie es ist

Eine spannende Frage in einer Welt, die immer komplizierter, düsterer und ungreifbarer zu werden scheint; die uns tagtäglich mit unserer Leistung konfrontiert, mit unserem Output, mit einem unübersichtlichen Angebot an Freizeitaktivität, Gesundheits- und Selbstoptimierungstipps, Reisezielen, die wir unbedingt besuchen müssen und dem Zustand eines ständigen Erwartungsschritts auf die nächste Sprosse der Karriereleiter.

Entwicklung per se ist etwas Positives. Aber stehen wir nicht alle unter einem Weiterentwicklungszwang? Ist unser Job, so wie wir ihn jetzt gerade machen, ist unser ganzes Tun nicht schon genügend? Müssen wir immer die Fühler nach mehr Ansehen, mehr Herausforderung, mehr Spitze ausstrecken?

Geht das: Familie UND Karriere?

„What if?“ ist eine Frage, die Hoa Luo sich auch als freischaffende Künstlerin und junge Mutter stellt. Der vor vier Jahren verstorbene, renommierte Schweizer Kinderarzt Remo Largo schreibt in  seinem Bestseller „Kinderjahre“, dass Familie und Karriere nicht vereinbar sind. Eine These, die viele sicherlich vehement und trotzig ablehnen.

Was er damit meint, scheint vielmehr zu sein, dass wir uns als arbeitende Eltern immer zerrissen fühlen, weil wir nie beidem, Job und Kind, so gerecht werden können, wie wir es uns wünschen. Aber was ist, wenn wir einfach mal sagen: „Ich bin eine gute Mutter und eine gute Künstlerin.“ Was ich mache, ist gut genug.

 

Textiles Himmelsgewölbe oder Eintauchen in eine Meer aus Stoff. Biild: Judith Schuck

Wann ist ein Kunstwerk fertig?

Mirjam Wanner, die die Ausstellung gemeinsam mit Hoa Luo und Marina Schütze aufbaute, sieht in der „What if“-Frage einen starken Bezug zum Kunstschaffen im Allgemeinen. Wann ist ein Kunstwerk fertig? Mache ich weiter oder höre ich an dieser Stelle auf? Mirjam Wanner und Hoa Luo lernten sich im vergangenen Jahr im Shed im Eisenwerk in Frauenfeld kennen, wo Hoa mit ihrem Mann Patrik Muchenberger die Ausstellung „Du fühlst dich unendlich“ kuratierte. Das Sommeratelier im Frauenfeld sehen sie als Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit.

Den Atelierraum betrachtete Hoa Luo als Arbeitsraum, in dem diesen Fragen auf die Spur gegangen wird. „Ich dachte an mehr, als eine Ausstellung. Ich habe Menschen eingeladen, die ich bewundere“, sagt Hoa Luo, „weil ich herausfinden wollte, was uns blockiert. Marina, Mirjam und ich haben dann zu dritt den Raum eingenommen.“ Ihr Stipendium teilte sie mit allen Beteilgten.

Nylonstrumpfhosen mit ambivalentem Symbolcharakter

Der Innenraum, den sie erst im Juli kennenlernte, stellte sie allerdings vor Herausforderungen. „Der Raum hat uns aufgefordert, die Kunstwelt, den White Cube, zu hinterfragen“, so Hoa Luo. Was sie im Raum schufen, wurde ein Dialog zwischen Architektur und Körperlichkeit. Die vier Aussensäulen verhüllten sie spielerisch mit beigefarbenen Nylonstrumpfhosen, die Mirjam Wanner für ein aktuelles Projekt vom Strumpfhersteller Wolfort gesponsert bekommen hat.

„Die Strumpfhosen sind ein Symbol von interessanter Autonomie und Weiblichkeit und gleichzeitig auch ein Bild von einer Abhängigkeit“, sagt Hoa Luo. „Sie mussten ihre Beine verhüllen und trugen Strumpfhosen als Symbol von Macht und Emanzipation.“ Gleichzeitig seien Strumpfhosen aus männlicher Sicht recht sexistisch. Die massiven Säulen also, die Pfeiler unserer Grundbedürfnisse, sind eingehüllt, überzogen, kunstvoll arrangiert und gefesselt mit leichtem, transparenten Nylon. Eine schützende oder sich schälende, abwerfende, erneuernde Hautschicht?

 

Die Autorin Tabea Lara Ngozi Briggs las auf dem rosa Teppich als Bühne. Bild: Patrik Muchenberger

Probiert und gespielt mit dem Faltenwurf

Im Innenraum bilden an der Decke luftige Stoffbanner einen textilen Himmel, eine wellige Welt aus leichtem Tuch, in der sich der Blick verliert. Die weissen Stoffe stammen hauptsächlich aus einem St. Galler Stoffladen; die Hauptbahn, die quer durch die Mitte verläuft, sind indische Tücher, zusammengenäht.

„Wir haben eine Woche lang geschaut und gespielt und probiert, damit die Stoffe schöne Wölbungen bekommen“, sagt Hoa Luo. Darunter bildet ein rosa Teppich den Boden, mandelförmig zugeschnitten wie eine Amygdala. Die Amygdala, zu deutsch: Mandelkern, ist Bestandteil des limbischen Systems, das im Hirn vor allem für die Entstehung von Gefühlen verantwortlich ist.

Rechts und links hängen vertikal zwei Seidenprints von Mirjam Wanner: „Sie stammen aus meiner Serie Schichten und Hüllen“, sagt die Frauenfelder Künstlerin. In der Serie beschäftigt sie sich anhand von Fotos von sich, ihrer Tochter und ihrer Mutter mit den drei Generationen. „Es geht um Überschneidungen, Überlagerungen, was vererbt man, was übernimmt man, wo gibt es Raum für den eigenen Platz?“ Auf den Tüchern sind je zwei Frauentorsi, Fotocollagen aus den drei Körpern.

Die grose Frage: was macht uns stabil?

Die farbigen Stoffbahnen sind aus dem Nachlass ihrer Mutter, die viel nach Indien reiste. „Ich habe mir oft überlegt, ob ich auch nach Indien reisen sollte, um meine Mutter besser zu verstehen. Aber Hoas Vorstellung davon, dass das, was wir haben, genug ist, hat mich dazu veranlasst, mit dem, was ich hier habe zu arbeiten.“ Im Sommeratelier habe Mirjam Wanner in der Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Material geschafft, offene Fragen einzuordnen.

„Es reicht, was mir zur Verfügung steht. Das ist gut“, sagt sie. Sie erlebte die Zusammenarbeit mit Hoa und Marina als sehr entspannt und fröhlich. „Es ist eine superschöne Verbindung entstanden, die ich als Ressource sehe. Ich bin überzeugt: das ist es, was uns trägt.“ Damit hat Mirjam Wanner für sich eine Ausgangsfrage von Hoa Luo beantwortet: „Wie stehen wir als Mensch? Was macht uns stabil?“

 

Statt mit Band und fettem Syntisound spielte Skiba Shapiro bei einem Picknick auf der Akustikgitarre. Bild: Patrik Muchenberger

Ein Stück Himmel für alle

Marina Schütze aus Wien arbeitet ebenfalls mit textilen Materialien und macht daraus Objekte. Eine weisse Gips-Skulptur erinnert an einen Faltenwurf, zentriert auf einem kreisrunden Spiegel, der den Stoffhimmel, die weissen, leichten Wellen reflektiert. Auf der Terrasse des Pavillons sind 51 kleine Bilder angeordnet, in Blautönen. Die meisten davon malte Hoa für die Ausstellung, eine davon schuf Mirjam Wanner, vereinzelte entstanden bei Workshops. „Die blauen Leinwände könnten Wasser, Wellen oder ein Stück Himmel sein“, sagt Hoa Luo. „Jeder kriegt ein Stück vom Himmel, wie er hier war. Wir wollen der Welt etwas Positives geben.“

Im Austausch mit Künstler:innen und Besuchenden traf Hoa Luo immer wieder auf kleine Minierfolge: „Ich freue mich so darüber, was der Titel alles ausgelöst hat! Ich bin Menschen begegnet, die ihre Lebensentwürfe hinterfragten und die die Ausstellung daran erinnerte, dass sie ihr Leben nicht richtig leben.“

Gefühle im Fokus

Hoa Luo verfolgt im Antlitz der Welt eine positive Grundeinstellung: „Ich glaube immer noch an die Demokratie. Ich möchte mich frei machen von Angst.“ Sie sieht es als hilfreich, die Gefühle in den Fokus zu rücken. Mit ihrem Konzept „What if?“ wolle sie sich selbst und anderen helfen, sich davon zu befreien, was wir alles sein müssen. „Was ist, wenn du alles hast, was du brauchst?“

 

Fotocollage aus der Serie Schichten und Hüllen von Mirjam Wanner. Bild: Judith Schuck

 

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