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von Inka Grabowsky, 11.04.2019

Im Keller mit Martin Walser

Im Keller mit Martin Walser
Mit 92 immer noch aktiv: Martin Walser | © Inka Grabowsky

Kurz nach seinem 92. Geburtstag hat Martin Walser im Kellertheater in Ermatingen aus seinem neuen Buch „Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung“ gelesen. Das Publikum kam zahlreich und war begeistert.

„Ich lese Walser seit rund fünfzig Jahren, und ich bedauere keine Stunde, die ich mit ihm zugebracht habe“, sagt Siegmund Kopitzki, Kulturredaktor des Südkuriers im Ruhestand, in seiner Einführung. Er warnt, diesmal böte der Autor keine Handlung und keinen der bekannten Helden, dafür aber eine Identifikationsfläche für seine Leser. Keine Frage: Kopitzki ist bekennender Fan. Zustande gekommen ist die Lesung aufgrund der langjährigen Kontakte, die der Hausherr auf Breitenstein, Adolf Jens Koemeda, zu Martin Walser pflegt. Fünf Mal las er bereits im Kellertheater, das erste Mal vor 37 Jahren, vor 13 Jahren das bis dato letzte Mal. Der Schweizer Schriftsteller Koemeda, selbst schon kurz vor dem 82. Geburtstag, telefoniert regelmässig mit dem Kollegen von der gegenüberliegenden Seeseite. „Als ich merkte, dass er gut in Form ist, habe ich gefragt, ob er nicht noch einmal ins Kellertheater kommen wolle. Und nach einigem Zögern hat er zugesagt.“

Müde Beine, wacher Geist

Vor Ort allerdings droht der gealterte Star fast an seinen körperlichen Einschränkungen zu scheitern. „Das ist das Abenteuerlichste, was ich als Lesung je versucht habe“, sagt er in Anspielung auf den Abstieg ins Kellertheater, der ihm sichtlich schwergefallen ist. Doch kaum sitzt er am Pult, die Lesebrille auf der Nase, das Glas Weisswein in Reichweite und das selbstgeschriebene Buch in der Hand, fällt alle Schwäche von ihm ab. Gebannt hängt ihm das Publikum an den Lippen. Konzentrierte Stille im ganzen Saal, und dann Lacher an den richtigen Stellen: „Das grösste Glück ist, wenn ich jemanden anrufe und ihn nicht erreiche.“ „Man lügt immer einem anderen zuliebe. Also ist Lügen praktizierte Humanität.“

Aus dem Mund des Autors wird die Selbstironie der Texte deutlicher. Sie sind über Jahrzehnte in tagebuchartigen Eintragungen entstanden, beziehen sich also immer auf Walsers Stimmung und sind seine Bekenntnisse. Logischerweise sind sie deshalb egozentrisch, was dem einen oder anderen Leser auf die Nerven gegangen ist. Liest sie der würdige Greis vor, sind sie berührend und mitunter regelrecht witzig. „Wahrscheinlich habe ich mich satt. Meine Geduld mit mir ist zu Ende. Ich werde jetzt andere Saiten aufziehen. Wenn ich nicht hören will, muss ich fühlen. Gar alles kann ich mir auch nicht durchgehen lassen.“  

Video: Martin Walser liest in Ermatingen

Kritik? Bleibt an diesem Abend aus. Es ist ein Fan-Treffen

Das Kellertheater ist an diesem Abend nicht der richtige Ort für kritische Nachfragen. Die über achtzig Zuschauer sind zum Teil weit angereist, um noch einmal ihr Idol live zu erleben. Walser selbst hatte allerdings Kritiker geradezu eingeladen. Als Motto stellt er seinen Sentenzen und Aphorismen voran: „Für Gegner: ein gefundenes Fressen. Für meine Leser: vielleicht ein Ausflug ins Vertraute“. Der Köder, den er in seinem neuesten Werk hinhält, besteht vor allem aus einem Gedicht, das das Vernichtungslager Auschwitz mit dem Hué-Massaker im Vietnam-Krieg 1968 in Relation setzt.

„Ostern, schönes Feuilleton
Aus Blut und Blüte,
du, das feiern wir!
Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz
lassen wir diesmal holzschnitthaft Hué herkommen
und sagen keinem hierzulande nach,
dass er diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der CDU nach,
die diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der SPD nach,
die diesen Krieg andauernd billigt.“

Das konnte nicht unwidersprochen bleiben. Am Abend in Ermatingen lässt Walser diesen Text ebenso aus wie seine Spottgedichte auf die Literaturkritiker Iris Radisch und Marcel Reich-Ranicki  (...) „Wenn MRR recht hat, habe ich nicht recht, wenn er gut ist, bin ich schlecht“. Stattdessen konzentriert er sich auf Naturlyrik und seinen Kampf mit dem Altern. 

Video: Martin Walser liest aus «Spätdienst»

„War es das wert?“, fragt Siegmund Kopitzki am Schluss, angeregt von Walsers Textzeile „Welch ein Lebensaufwand für ein bisschen Buch.“ Martin Walser zögert nur kurz: „Ich weiss, dass ich jetzt sagen soll ‚doch, doch‘, aber ich bin nicht legitimiert, ein Urteil abzugeben, ob es sich gelohnt hat. Ich kann sagen, dass ich ein paar Sätze geschrieben habe, zu denen ich stehen kann. Mein wichtigster Satz lautet: Mehr als schön ist nichts. Das ist in allen Stürmen der Verzweiflung das Einzige, was mir geholfen hat. Was auch immer ich erleben durfte, erträglich wurde alles nur dadurch, dass etwas schön gesagt werden konnte. Das ist der Vorteil, die Gnade des Schreibers, dass er davon lebt, dass er etwas Schönes gemacht hat. Wieviel die andern davon haben, mag ich nicht beurteilen. Mehr als schön ist nichts - das ist für mich der Sinn des Daseins geblieben.“

Adolf Jens Koemeda zieht im Namen der Zuhörer ein dankbares Fazit: „Wir sind beschenkt worden. Ein Abend, den wir nie vergessen werden!“
 
Martin Walser: „Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung.“ Rowohlt-Verlag, Fr. 32.90.

Das 37 Jahre alte Plakat für die erste Lesung Walsers in Ermatingen wird dort gut aufbewahrt. Bild: Inka Grabowsky

 

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