von Barbara Camenzind, 20.01.2022
Komplizen im Geiste
Nicht erst seit Corona ist das Verhältnis von Musiker:innen und ihrem Publikum kompliziert geworden. Mit mehr Nahbarkeit und Lust auf Vermittlung könnte die Liebe neu entflammen. Ein Kommentar. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Musik hat die Kraft, Berge zu versetzen und eingeschlafene Verknüpfungen zu reaktivieren. Oder sie neu zu schaffen. Diese These schlage ich an die Türe der pandemiegebeutelten Konzert-und Theaterinstitutionen. Und schreibe sie für die, die sich grundsätzlich fragen, wo in unserer Zeit das Publikum bleibt.
Zwei Projekte, einerseits Nœise von Christoph Luchsinger im Bereich Zeitgenössischer Musik, andererseits Solos & Sights im Bereich Förderung von Musiker:innen mit Fluchthintergrund durch die Internationale Bodenseekonferenz IBK zeigen auf, was passiert, wenn sich die Musik zu den Menschen aufmacht.
Musik, die in der Buchhandlung aufspielt, im Kaufhaus, der Bibliothek. Ja, es sind Nischensparten im grossen Musikzirkus, die schon immer gut überlegen mussten, wie sie Aufmerksamkeit generieren und neu Fuss fassen wollen.
Die Künste müssen auf ihr Publikum zu gehen
Klug eingefädelt, kann so eine Komplizenschaft mit der Aufsuchenden Öffentlichkeitsarbeit, wie sie in der Soziologie genannt wird, durchaus Verbindungen schaffen. Musik ist Beziehungsarbeit, sagt die Pianistin Simone Keller und so wahrgenommen, entwickelt Musik eine ganz grosse Kraft.
Sie baut Brücken über ganz grosse Gräben. Wenn die Menschen, die mit ihr unterwegs sind, auf die Menschen die Publikum sein könnten, zugehen. In Verbindung treten. Das greift für Jazzkonzerte, für Opernhäuser, für die Tonhallen, die kleinen und grossen Kammermusikformate in unserem Kanton und in der weiteren Bodenseeregion.
Was man aus einem Rorschacher Projekt lernen kann
2005 starteten Selina Ingold und Mark Riklin zusammen mit der damals noch in Rorschach angesiedelten Fachhochschule für Soziale Arbeit St. Gallen FHSG das Buchprojekt „Stadt als Bühne - szenische Eingriffe in einen Stadtkörper“. In meiner in den Dornröschenschlaf versunkenen Heimatstadt griffen Studierende mit szenischen Interventionen in den Stadtkörper ein.
Ein Herold verlas Fragen an die Bewohner:innen, im Hochhaus gab es plötzlich einen Fahrstuhlsprecher, die zubetonierten Bäche wurden sichtbar gemalt und zwei Schatzsucher versuchten während zwei Jahren nachzuforschen, was denn an Schönem und Schrägem in Rorschach übersehen wurde. Und dann gab es den Seepianisten auf dem Floss.
Diese Interventionen, oft in Guerillataktik angewendet, sorgten für Aufsehen, für Amüsement, für Mitspieler und Gegenspieler. Was blieb nach Abschluss Ende Jahr 2011? Die Stadtfiguren der Glöckner vom Jakobsbrunnen und ein unermüdlicher Blogger, der sich mit seinem „Rorschacher Echo“ verdientes Lob einheimst, nachdem in den Printmedien die Lokalkultur ins Nirgendwo schrumpften.
Wer traut sich endlich, etwas wirklich Neues zu wagen?
Als Mitakteurin (Schatzsucherin) wurde ich von der Sängerin, die nicht mehr Oper singen kann, zur Musikjournalistin. In den vergangenen 10 Jahren habe ich viel über die Techniken der szenischen Eingriffe und die Aufsuchende Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht. Und mein Unbehagen gegenüber den klassischen Konzertformaten wuchs, trotz aller Begeisterung für die Musik.
Ich bekomme mit, wie kleinere, aber sehr renommierte Veranstalter in der Bodenseeregion ihre Arbeit beenden, da war Corona nur noch der letzte Schubs dazu. Wie sie zusammen mit dem Publikum altern und untergehen. Platz machen wollen für Neues, was auch seine Berechtigung hat. Bloss, wer traut sich und wie?
Die Beziehung zum Publikum muss man pflegen, sonst scheitert sie
Da gäbe Stadt als Bühne vielleicht kreative Hinweise. Oder auch das Gastspiel der Südwestdeutschen Philharmonie in der Bodenseetherme Konstanz bei dem Projekt «Liebe Macht Nass» im Jahr 2017.
Aufsuchende musikalische Öffentlichkeitsarbeit ist nicht für die Ewigkeit gedacht und sollte keine tradierten Formen annehmen, wie beim Dirigenten, den man beim Auftritt im Orchestergraben beklatscht.
Was erlaubt sein muss
Und sie funktioniert auch dann nicht, wenn man sie in den öffentlichen Raum stellt und sich die Akteure der Beziehungsarbeit entziehen. Eine Klanginstallation mit Performance in einer Bibliothek ist ein super Anfang, doch wie gehe ich mit denen um, die Fragen dazu haben?
Oder klassischer: Die Winterreise mit Konzertbestuhlung im Wirtshaus, wo der Sänger wieder steif am Flügel klebt und keine Stecknadel fallen darf, damit ist es nicht getan. Aber Schubert in der Beiz - und man darf was trinken und mitsingen, wenn man ein Lied kennt - schon eher. Der Komponist verkraftet sowas.
Das ist keine Anbiederung, das ist die Zukunft
Wer sich Guerillataktiken aneignet, um Brücken zu bauen, biedert sich nicht an. Aber er muss das Tier reiten können und dann wieder loslassen. Vielleicht gelingt es ja so, sich wieder sichtbarer zu machen. Und nahbarer.
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