von Barbara Camenzind, 04.11.2024
Mit leisem Stift und wachen Sinnen
In der neuen Serie „Wie wir arbeiten“ erklären thurgaukultur-Autor:innen nach welchen Kriterien sie arbeiten und was es alles braucht bis ein Text fertig ist. Zum Auftakt: Unsere Musikkritikerin Barbara Camenzind. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
13 Jahre als Musikjournalistin und Musikkritikerin, davon zehn für thurgaukultur.ch. Was mache ich eigentlich und wie? Zum Einstieg ein paar Zeilen eines grossen Komponisten und Dichter:
„Heute findet jede Zeitung
Grössere Verbreitung durch Musikkritiker
Und so hab auch ich die Ehre
Und mach jetzt Karriere als Musikkritiker.
ich hab zwar keine Ahnung, was Musik ist
Denn ich bin beruflich Pharmazeut
Aber ich weiss sehr gut, was Kritik ist
Je schlechter, um so mehr freun sich die Leut.“
….
Jenseits der Klischees
Danke, das genügt Georg Kreisler, besten Dank, jetzt sind genügend Klischees transportiert worden. Weder bin ich Pharmazeutin, noch mach ich Karriere. Je älter ich werde und über Musik schreibe - hier in den tönenden Vielfalt des Kantons Thurgau - um so weniger glaube ich zu wissen. Und lerne immer wieder dazu. Kreislers böses Liedchen über „meine“ Zunft erzählt jedoch schon ein paar Wahrheiten. Es gibt meines Wissens keine spezifische Berufsausbildung zur Musikjournalistin oder Musikkritikerin.
Und zwingend Berufsmusikerin muss eine Musikkritikerin auch nicht sein. Als aktiv Musikschaffende bekäme ich persönlich einen Interessenkonflikt und müsste unter Pseudonym schreiben, wie weiland der Komponist Claude Debussy als pöhser Monsieur Croche. Und: Was täten dann die ganzen Musikwissenschaftler:innen im Feuilleton der grossen Zeitungen? Die haben lange studiert, schreiben auch über Oper und können nicht singen.
In der Serie „inside thurgaukultur.ch – wie wir arbeiten“ schreiben unsere Autor:innen über ihren Arbeitsalltag. Sie erklären, wie sie sich für ihre Termine und Texte vorbereiten, auf welchen Wegen sie recherchieren und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen. Wir öffnen damit bewusst die Tür zu unserer Werkstatt, damit du besser nachvollziehen kannst, wie wir arbeiten und welche Kriterien uns in unserem Tun leiten.
Damit sollen einerseits unsere Autorinnen und Autoren sichtbarer werden, zudem wollen wir die Bedeutung von Kulturjournalismus damit herausstellen. Denn es stimmt ja immer noch, was Dieter Langhart im Mai für uns geschrieben hat: „Ohne Kulturjournalismus keine Abbildung und Einordnung von Kultur.“
Alle Teile der Serie bündeln wir in einem Dossier.
So pfui jetzt, diese Vorurteile! Und ja, ich schreibe über das, was ich persönlich höre und erlebe an einem Konzert, einer Aufführung einer Performance. Was es dazu braucht: Gute Ohren, ein musikalisches Herz, wache Sinne, ein, zwei Kilometer verlinkte Werkkenntnisse und die Fähigkeit, einen leserlichen deutschen Satz zu schreiben, der etwas kürzer ist, wie dieser. Solches erleichtert die Arbeit einer Musikjournalistin enorm. Das ausgemusterte Opernross in mir bringt auch noch eine ordentliche Portion Verständnis für die auf dem Podium mit. Und manchmal darum auch gar nicht. Das ist eine zwiespältige Fähigkeit, für die ich ein Gegengewicht habe, ein angeheiratetes, doch dazu später.
Selbst einmal Sängerin gewesen zu sein, hat Vor- und Nachteile. Im Konservatorium Innsbruck, an den Theatern, an denen ich engagiert war, nudelte ich nicht nur selbstgefällig meine Arien herunter, sondern steckte meine Nase neugierig hinein beim Jazz, der Zeitgenössischen Avantgarde bis in die Tiroler Volksmusik. Das hat mir viel Erfahrung beschert. Und meine zeitlich überschaubare Karriere als Sängerin ist letztlich auch mit der Grund, warum ich mich dem Musikjournalismus zuwandte. Genauer gesagt, eine Kritik an meiner Singerei war schuld, lange bevor ich zu schreiben begann.
Wie meine Bühnenerfahrung mein Schreiben beeinflusst
Als junge Sängerin in Österreich glaubte ich, sie auch noch erlebt zu haben, die grauen Männer der Redaktionen, die einen vernichten oder in den Olymp schreiben konnten. Den Vogel abgeschossen hat jedoch einer in Südtirol. Schon früh erwachte mein Interesse an der Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Wir waren mit Pierre Boulez‘ „Le marteau sans maître“ und dem Tiroler Ensemble für Neue Musik (TENM) in Bozen. Ein sauschwerer Zwölftöner, wohl tief für eine Mezzosopranistin. Ich habe ein Jahr lang dran geübt, konnte „den Hammer“ schon auswendig und hatte jeden Ton sorgfältig gehegt und gepflegt und lieb gewonnen.
Da bei diesem feinziselierten, genialen Werk der klassischen Moderne die Stimme in den ersten Sätzen pausiert, schaute ich ins Publikum und sah dort einen Herrn mit den Noten auf dem Schoss. Ahja… Als ich aufstand, um einzusetzen, zückte er eine Stimmgabel. Ernsthaft. In der strunzlangweiligen und technokratischen Kritik danach in der Zeitung wurde dann in einem Nebensatz erwähnt, dass Frau Camenzind 95 Prozent der Töne richtig getroffen hat. Punkt. Nachdem ich mir überlegt hatte, wohin ich ihm seine Stimmgabel….dachte ich mir, „Barbara solltest du je über Musik schreiben, machst du das BITTE anders.“ Und dieses Karma traf mich, aus gesundheitlichen Gründen, ein paar Jahre später.
Woran ich mich orientiere: Handwerk und Kriterien
In den 13 Jahren als Musikschreiberin für verschiedene Medien in Österreich und der Schweiz, habe ich ein paar Fragestellungen entwickelt, beziehungsweise entdeckt, die nützlich sind:
Für welches Medium schreibe ich?
Was wird gegeben? Das heisst, welches Genre, welche Musik, welcher Stil wird gespielt?
Wer spielt? Sind das Profis, sind es Amateure im besten Wortsinn, oder beide?
Wie ist der Kontext? Ein etabliertes internationales Festival, ein Hauskonzert, eine Performance?
Was wollen die Veranstaltenden damit? Stimmt das mit dem überein, was ich gehört/erlebt habe?
Passt das Werk zu denen, die es aufführen?
Wie gehen die Ausführenden mit der Musik um?
Wie erlebe ich das Publikum?
Wer liest?
Was will ich der Leserschaft vermitteln?
Was Musikjournalismus für mich definitiv nicht ist: Hofberichterstattung oder anders herum: Künstlervernichtung. Und mein privater Musikgeschmack hat nichts zu suchen in einem Text. Gerade in einem Medium wie der Kulturplattform eines Kantons, auf der die Vielfalt abgebildet werden soll. Wo ich einen schöpferischen Prozess vermute, da ist mein Interesse geweckt. Zuviel Selbstdarstellung oder Konservenschlachten ärgern mich, denen begegne aber selten.
Mit der Pandemie wurde mir ganz deutlich bewusst, wie nötig es ist, dass die Musik weiterhin eine Stimme bekommt, in den Medien sichtbar bleibt. Darum sind nicht nur Rezensionen, wie Kritiken schön lateinisch heissen, wichtig, sondern auch Vorschauen. Wir - die Musikjournalistinnen brauchen die Darbietenden - und umgekehrt.
Herausforderungen…oder wie sag ich’s dem Kinde?
Herrjeh, Herausforderungen gibt es ja schon. Nach dem Lockdown war ich so froh, dass sich in der Szene wieder etwas tat, dass ich fast etwas zu unkritisch wurde. Zum Glück hat das unser Chefredakteur gemerkt. Grundsätzlich sitze ich als wohlwollende Kollegin im Publikum. Es ist aber meine Pflicht, Erlebtes zu beschreiben und kritisch einzuordnen.
Hier ein fiktives Beispiel, konstruiert aus meinem Erfahrungsschatz: Auf dem Podium steht eine junge, hochmusikalische Sopranistin, die mit einem engagierten Orchester und einem musikalischen Leiter, der sich (meine Annahme) Mozarts „Exsultate Jubilate“ ins Portfolio dirigieren möchte. Die junge Frau hat eine wunderschöne Stimme, tolles Legato im langsamen Satz, aber sie vergaloppiert sich mit dem Atem ständig in den schnellen Koloraturen. Es ist einfach noch zu schwer. Und: Es wird tüchtig durchdirigiert. Mozart zeigt so gnadenlos Grenzen auf, künstlerisch und handwerklich. Das Publikum, grösstenteils bestehend aus Menschen, die einen persönlichen Bezug zu den Darbietenden haben, sind begeistert.
Was alles in einen Text einfliesst
Ja, wie schreibe ich da darüber? Ich weiss doch selber ganz genau, wie verdammt schwer das zu singen ist. Einer meiner Gesangslehrer, Kurt Widmer aus Basel, sagte einmal: Wenn du nachts aus dem aus dem Tiefschlaf geholt wirst und dann diese Tongirlanden aus Exultate laufen, dann wirst du dem Werk gerecht. Er hatte sowas von recht. Er hatte aber auch recht, als er mir einmal erklärte: Grosse Musik funktioniert im Kleinen und wenn jemand sich in einen schöpferischen Prozess begibt, kann Kunstfertigkeit wachsen.
Genau so würde dies in meinen Text einfliessen. Ich muss auf die - hier jetzt technischen Lücken - hinweisen, auch die des Dirigenten. Wobei meine Annahme in Bezug auf die Werkwahl unausgesprochen bleibt, weil Annahmen nicht ins Blatt gehören. Aber ganz sicher der Hinweis, dass Sängerinnen auch mal Luft holen sollten. Wenn sonst ehrlich musiziert wird, muss ich auch das sagen. Differenzierung, Augen-, bzw. „Ohrenmass“ sind das A und O in so einem Fall.
Die feinen Unterschiede in der Berichterstattung
Es ist der Fluch unserer Zeit, mit den perfekt abgemischten Tonkonserven, dies zu Mozarts Zeit noch gar nicht gab. Und ich sitze nicht im Leipziger Gewandhaus in diesem Beispiel. Natürlich gehe ich mit einem anderen Anspruch in ein internationales Festival wie die Ittinger Pfingstkonzerte, als an ein Konzert eines Jugendorchesters, das gibt der Kontext vor.
Und jemanden nicht gut finden oder gut finden, weil „man den bei uns Kulturellen“ jetzt hypt oder eben nicht: Ich wohne in Rorschach SG und gehöre nicht zum Thurgauer Kulturkuchen und lasse mich auf sowas eh nicht ein. Ein „Baby“ habe ich jedoch: Gerade bei Konzerten mit Zeitgenössischer Musik, versuche ich Veranstaltenden Mut zuzusprechen, wie dem Publikum, sich darauf einzulassen. Und ich lerne und lerne. Soviel Blasmusik, beziehungsweise spannende „Musik mit Blech“ gehört, wie in den letzten zwei Jahren, habe ich mein ganzes vorheriges Leben nicht.
Das gerettete Rössl und zischende Festivaldamen
Lustiges, Schräges erlebe ich auch immer wieder mal, natürlich. Hin und wieder begleiten mich mein Mann, oder auch meine Tochter zu den Aufführungen. Ihre Wahrnehmung ist oft Teil meiner Berichterstattung und das aus gutem Grund. Sie sind auch Zuhörende und sorgen in meinen Texten für Balance und Bodenhaftung.
Bestes Beispiel, das „Weisse Rössl“ in Sirnach. Diese Revue-Operette kenne ich einfach zu gut und ich bekam fast die Krise, weil das Orchester hinter den Sängern platziert war und das wackelte und ich ärgerte mich…. Mein Mann, von Beruf Hufschmied und Publikum lachte sich einen Abend lang schlapp und unterhielt sich prächtig. Es war auch superlustig und beides hatte Platz im Text. Das Rössl war gerettet.
Woran man mich erkennt im Konzert
Erkennbar bin ich an meinem ledergebundenen Heft mit Stift. Ich schreibe meine Eindrücke immer auf, natürlich gerade wenn Programmänderungen angesagt werden. Meistens brauche die Notizen nachher nicht mehr, weil sie im Kopf sind. Aber wehe, ich vergesse das Heft. Drama. Aus lauter Verzweiflung, weil ich schon oft mit ausgetrocknetem Stift dasass, bin ich auf Bleistift umgestiegen. Was eine sehr geräuschempfindliche Dame in Ittingen tutschhässig zischen liess, weil ich ihr in eine Generalpause kritzelte. Ja, es ist jetzt wieder ein Tintenroller.
Natürlich gäbe das digitale Format es her, auch in Sachen Musik und Musikkritik multimedial zu arbeiten. Obwohl neugierig, traue ich mich noch nicht so recht. Auch, weil mein liebstes Ausdrucksmittel das geschriebene Wort ist. Darum, danke allen, die „mich lesen“ und vor allem denen, die mir das journalistische Handwerkszeug learning by doing beibrachten. Michael Lünstroth, der es mir immer weiter beibringt.
Ohne Entertainment geht es für mich nicht
Einfach schreiben allein reicht nicht. Als Redaktionsleiter erlaubt er mir meinen persönlichen Stil mit dem unterhaltsamen Tonfall. Was woanders wohl nicht ginge und den ich nie auf Kosten der Ausführenden anschlage. Auch wenn ich selber nicht mehr auftrete: Die Entertainerin ist nicht totzukriegen.
Danke euch, denen ich zuhören darf.
Meine Verneigung, Barbara Camenzind!
Hier gehts zum ganzen Lied von Georg Kreisler: Viel Spass mit dem „Musikkritiker“!
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