von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 19.06.2018
Neue Heimat
Wie kann Integration gelingen? Die Familiengeschichte der jungen Fotografin Thi My Lien Nguyen gibt darauf Antworten. In einer Ausstellung in Rapperswil erzählt sie nun davon
Im November 1979 wurden die Menschen in Steinegg (Appenzell) gewissenhaft auf ihre neuen Nachbarn vorbereitet. Unter dem Titel „Die Flüchtlinge sind da - wie sich verhalten?“ gab ein Zeitungsbericht Tipps wie diese hier: „Wer mit ihnen in Kontakt kommt, sollte möglichst deutlich und langsam in schriftdeutscher Sprache mit den Flüchtlingen sprechen. Diese Menschen sind vor allem keine Ausstellungsobjekte wie in einem Zoo. (…) Es ist auch keineswegs verboten, die Familie zu besuchen oder sich nach Hause einzuladen - nur sollte vermieden werden, dass sie jeden Abend ausgebucht ist und so das Familienleben zu kurz kommt.“
Die Menschen, die an jenem 17. November 1979 nach Steinegg kamen, war die Familie Vo Van Chau. Sie waren vor dem Vietnamkrieg aus Laos geflohen und standen nun - nach dramatischen Erlebnissen auf der Flucht und in Flüchtlingslagern - vor einem neuen Leben. Dass ihre Geschichte heute wieder aktuell wird, liegt an Thi My Lien Nguyen. Sie ist Teil dieser Familie, wurde aber erst 16 Jahre nach der Ankunft der Familie in der Schweiz, in St. Gallen geboren. Aufgewachsen ist sie in Amriswil, heute lebt die Fotografin und Videojournalistin in Winterthur. In einer Ausstellung im Kunstzeughaus Rapperswil-Jona setzt sie sich jetzt mit ihrer Familiengeschichte auseinander: Anhand von gefundenen Familienfotos, eigenen Fotoarbeiten, kurzen Texten, sowie einer Videoarbeit stellt Thi My Lien Nguyen drei Generationen ihrer aus Vietnam stammenden Familie in den Mittelpunkt und stellt sich die Frage, welche kulturellen Werte neben ihrer Schweizer Identität für sie von Bedeutung sind.
Bilderstrecke: Fotografien aus der Ausstellung
Begonnen hat die Fotografin mit dieser Aufarbeitung der Familiengeschichte schon früher. Mit ihrer Diplomarbeit „Hiếu thảo - with love and respect“ an der Hochschule Luzern fing alles an. „Ich wollte unsere Geschichte als Beispiel dafür erzählen, wie Integration gelingen kann“, sagt Thi My Lien Nguyen im Gespräch mit thurgaukultur.ch. Für sie der Schlüssel zu diesem Erfolg: „Wir haben uns ein bisschen angepasst, durften aber auch unsere Kultur weiter leben. Wir haben inzwischen alle akzeptiert, dass wir beides sind: Vietnamesen und Schweizer“, erzählt die 23-Jährige. Der Thurgauer Zungenschlag ist unüberhörbar.
Ein Jahr lang hat sie sich für ihre Diplomarbeit mit dem Thema beschäftigt. Ein Jahr, das auch sie selbst verändert hat: „Natürlich macht das was mit einem. Wenn deine Grossmutter oder Mutter vor dir sitzt und dir von der Flucht erzählt, berührt mich das sehr und mir kommen in diesen sehr intimen Momenten Tränen. Das Gute daran aber war: Ich fühle mich heute zum Beispiel meiner Grossmutter und Mutter viel näher als vorher“, sagt sie. Leicht war diese Auseinandersetzung deswegen aber noch lange nicht. Fast 40 Jahre lang hätten weder Mutter noch Grossmutter bewusst über die Flucht und die Ursachen dafür gesprochen. „Das war das frühere Leben, das in einer Schublade verschwunden war“, sagt Thi My Lien Nguyen. Diese Schublade wieder herausziehen sei oft sehr emotional gewesen. Seitdem weiss sie auch, dass sich traumatisierende Erlebnisse auch auf nachfolgende Generationen in einer Familie auswirken können.
Ausgrenzung? So was habe sie nie erlebt, sagt die Fotografin
Sie selbst sei eher unspektakulär aufgewachsen, sagt die Fotografin. Ihr Anders-Sein im Vergleich zu den anderen Kindern sei schon mal Thema gewesen. Aber echte Ausgrenzung habe sie nie erlebt. „Das liegt auch daran, dass mich meine Mutter die Schweizer Gepflogenheiten hat kennenlernen lassen. Mir war klar, dass wir im Kindergarten Dinge anders machen als zu Hause, aber ich durfte daran teilnehmen, meine Mutter hat mir das nicht verboten. Sie hat immer gesagt: ‚Mach mit, wenn Du magst, wenn nicht dann lass es.‘ Und über die Jahre wurden dann auch Schweizer Bräuche bei uns selbstverständlicher“, blickt die 23-Jährige zurück. Ohne Konflikte ging es aber auch in ihrer Familie nicht. „Vor allem meinen Grosseltern war wichtig, dass ich unsere vietnamesische Kultur nicht verlerne. Deswegen wurde mir nahe gelegt die vietnamesische Sprache und Sitten zu pflegen. Ich wollte aber auch gerne in der neuen Heimat ankommen und Freiheiten haben wie andere Kinder“, erklärt Nguyen.
Heute fühlt sie sich längst angekommen, sie hat eine gute Ausbildung, mit 23 Jahren jetzt ihre erste Einzelausstellung in einem Schweizer Museum, die Türen stehen ihr offen. Die Sorgen, die sie beschäftigen sind die Sorgen, die auch andere junge Menschen ihrer Generation umtreiben: Finde ich den richtigen Job? Lebe ich das richtige Leben? Habe ich genug Zeit für meine Freunde? Wie werde ich glücklich? Ihre Herkunft gehört zu ihrem Leben. Aber sie bestimmt nicht über ihr Denken und Fühlen.
Eine Hoffnung hat sie noch - dass sich die Gesellschaft wandelt
Fragt man Thi My Lien Nguyen nach ihrer Zukunft, dann lässt sie da manches offen. „Fotografin, Videojournalistin, Künstlerin, ich bin irgendwie gerade alles gleichzeitig und das finde ich auch ganz gut“, so die 23-Jährige. Festlegen will sie sich gerade nicht. Vielfältig wolle sie bleiben, nur Ausstellungen zu machen, wäre ihr zu wenig. Schliesslich will sie doch möglichst viele Menschen mit ihrer Botschaft erreichen. Sie will Diskurs schaffen und Anregungen geben - über das klassische kunstinteressierte Publikum hinaus. Alle sollen verstehen, dass alles möglich sein kann, wenn man denn will. Ihre Hoffnung dahinter: „Dann verändert sich vielleicht einestages auch das gesellschaftliche Klima und wir können weniger über Unterschiede und mehr über gemeinsame Möglichkeiten reden.“
Termin: Die Ausstellung «Hiếu thảo – With love and respect» ist bis zum 5. August in der Ausstellungsreihe „Seitenwagen“ im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil-Jona (Schönbodenstrasse 1) zu sehen. Einen Rundgang durch die Ausstellung mit der Künstlerin Thi My Lien Nguyen und Peter Stohler, Direktor Kunst(Zeug)Haus, gibt es am Mittwoch, 11. Juli 2018, 18.30 Uhr.
Flyer zur Austellung hier.
Video zum Projekt „Hiếu thảo - with love and respect“
Die Fotografin
Selbstportrait im traditionellen Vietnamesischen Kleid Áo dài, 2017
Thi My Lien Nguyen (*1995 in St. Gallen, lebt und arbeitet in Amriswil TG und Winterthur) hat 2017 ein Bachelorstudium in Visueller Kommunikation, Camera Arts, an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, abgeschlossen. 2017 wurde sie für den Alumni Förderpreis der Hochschule Luzern – Design und Kunst und für den «Photoboox Award» in Lucca nominiert. 2017 Ausstellung im Rahmen des «Prix Photoforum» im Centre Pasquart in Biel. Ferner arbeitet sie als Foto- und Videojournalistin.
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