von Jeremias Heppeler, 03.03.2022
Rotierend wie ein Kreisel
Der Frauenfelder Rémy Sax hat mit seiner Band Carve up! ein Debütalbum veröffentlicht. Es ist roh, hypnotisch und steckt voller Geschichten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Reden wir nicht lange um den heissen Brei herum: «Carve Up!» ist ein Album-Album, so ein Album also, dass als Album wahrgenommen und konsumiert werden muss, so ein Album also, das am allerbesten in der vorgesehenen Reihenfolge funktioniert. Die Songs verschmelzen im fälligen Hören zu einem eleganten Musikgolem, die Songs werden zu Körperteilen, zu Armen und Beinen, Fingern und Augen.
So ist es vor allem der Flow, der das «Carve Up!»-Debüt auszeichnet, der Sog, der um sich herum rotiert in alle Richtungen gleichzeitig. Dazwischen schiebt sich immer wieder eine flirrende 70er Jahre-Krautrock-Orgel und daraus heraus: Hypnose! Es ist wirklich ein Album zum Abtauchen darin, obwohl das alles schon bewusst rough klingt, hier ist wenig geschliffen, es darf, soll und muss knarzen, rattern, rausfallen.
Das Label AuGeil-Records bündelt hier seine Kräfte
Man spürt regelrecht die Geschichte, die die einzelnen Bandmitglieder verbindet. Sie, diese Augeil-Records Supergroup, angeführt in diesem Fall von Rémy Sax mit massiver Unterstützung von Louis Keller (aka Gamma Kite) am Schlagwerk, Tobias Rüetschi (aka ObachtObacht) am Bass und Hannes Bissegger an der Gitarre, schwingt sich auf zu einer Einheit, die erstmal angeschlagen, rotiert wie ein Kreisel.
Und hier kristallisiert sich auch ein eigenartiges Konzept der Frauenfelder Musikszene heraus: Die einzelnen Akteure prägen ihre eigenen Projekte, unterstützen sich aber gegenseitig als temporäre Bandmitglieder. Dadurch entsteht Rotation und neue Energien und die klassischen, manchmal doch etwas starren Bandkonstrukte, werden aufgebrochen und in Schwingung gebracht.
Reinhören (1): So klingen Carve up!
Warum das Album auch als Tape erscheint
Carve Up! jedenfalls ist die Rémy-Sax-Band, der zuvor vor allem auch an der Seite von Rüetschi den ObachtObacht-Sound prägte. Über die Jahre sammelte Sax Skizzen, grobe Songideen, fast wie Notizen und jetzt war es eben Zeit, genau diese zu vertonen und zum Leben erwecken.
Spannend: Das Skizzenhafte ist geblieben, eine alte Tapemachine, so ein richtiges Relikt, wurde zum entscheidenden Werkzeug und das hört man. Soll man hören. Muss man hören. Passenderweise erscheint das Album auch auf Tape!
Reinhören (2): Das ganze Album bei Spotify
Das grosse Vorbild Syd Barrett
Als entscheidenden Verweis nennt Rémy Sax Syd Barrett, jenen Gitarristen also, der Pink Floyd aufgrund aufkeimender psychischer Probleme verliess, bevor Pink Floyd zu einer der grössten Bands des Planeten wurde.
Während Pink Floyd also grösser und grösser wurden, wurde Barrett kleiner und kleiner. Seine Musik voller Fehler und Unzulänglichkeiten, aber eben doch von einer rohen Reinheit, die Musiker:innen bis heute prägt.
Im Pressetext heisst es: “Weg vom Rock Pathos und seinen angestaubten Hierarchien”. Und ja, “Carve Up!” ist ein kleines Album, aber im positiven Sinne - und deshalb vermittelt der eingangs beschworene Golem vielleicht auch ein falsches Bild. Oder doch nicht?
Warum man das Album anhören sollte
Der Widerspruch zwischen konzentriertem Konzept und ausgeprägter Roughness jedenfalls prägte das Album und baut gehörige Spannungen auf, denen man sich dringend aussetzen sollte.
Reinhören (3): So klingen Carve up!
Interview mit Rémy Sax
Carve Up erscheint als eine regelrechte Supergroup der Augeil-Records. Wenn man ObachtObacht als das “Tobias Rüetschi”-Projekt wahrnimmt, dann rückst du jetzt in der Vordergrund. Ich finde diesen Ansatz sehr spannend - dieses gleichzeitige Zurücktreten und in den Vordergrund rücken. Wie unterscheiden sich die Arbeitsweise mit Blick auf die unterschiedlichen Bandprojekte?
Eigentlich unterscheiden sich die Arbeitsweisen gar nicht so sehr. Mir war aber schnell klar, dass Carve Up! nur als Band funktionieren würde und ich wollte mich eigentlich als „Songwriter“ bewusst nicht zu sehr ins Zentrum rücken. Tobias, Louis und Hannes haben viel zu meiner eigenen musikalischen Entwicklung beigetragen. Die Aufnahmen und das fertige Album sollten dem gerecht werden.
Unter welchen Umständen ist dieses Album entstanden? Hattest du fertige Songs? Wann kamen die anderen dazu?
Nachdem ich bei Obacht Obacht in der Probe zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand gedrückt bekam, habe ich recht schnell angefangen, Zuhause meine eigenen Songs aufzunehmen. War mir aber alleine ziemlich unsicher. Die Songs dann mit Band zu spielen hat mir gezeigt: „He, das funktioniert eigentlich ganz gut!“. Wir sind ja auch abseits unserer musikalischen Projekte gut befreundet und helfen uns gegenseitig. Das ist auch das Schöne bei AuGeil Records.
Mir gefällt die Roughness im Soundbild, es klingt alles sehr auf den Punkt, aber doch nicht berechenbar. Fast, als hättet ihr auch live eingespielt. Wie gelingt es - bei aller Detailliebe - auch gewissen Stellen offen zu lassen?
Bass, Schlagzeug und Gitarre sind tatsächlich live eingespielt. Die Roughness ist wohl das Produkt einer alterskranken Tapemachine, dem Songwriting und dem selbst gemachten Mix von Tobias und mir. Wir sind wohl ziemlich unkonventionell was die Arbeit im Studio angeht. Das macht den Prozess zwar manchmal mühseliger, dafür hört man ihn. Uns fällt es einfacher, gewisse Stellen offen zu lassen.
Wie fühlt es sich an, so ein grosses, abgeschlossenes Projekt in die Öffentlichkeit zu entlassen? Sind das nur positive Gefühle?
Grundsätzlich ja. Wir haben lange am Album rumgetüftelt und freuen uns riesig, dass es endlich draussen ist. Andererseits haben wir uns in der Zwischenzeit natürlich alle musikalisch weiterentwickelt und hätten heute wohl vieles anders gemacht. Aber am Schluss bleibt trotzdem ein sehr positives Gefühl und wir freuen uns riesig bald wieder live auftreten zu können. Unsere Musik mit anderen zu teilen macht einfach am meisten Spass. Da mussten wir alle ziemlich untendurch die letzten zwei Jahre.
Ich hab beim Hören stark das Gefühl, vor einem Album-Album zu sitzen. Also eines, das besonders gut als Gesamtwerk funktioniert - ist das so gedacht?
Schön das du das auch so siehst. Ich habe auch das Gefühl, dass das Album am besten als Ganzes funktioniert. Während die einzelnen Songs manchmal etwas deplatziert wirken, ergeben sie als Album plötzlich wieder Sinn. Ein bisschen wie bei einer Collage, erst im Zusammenspiel ergibt sich einem das grössere Ganze.
Ihr bringt Carve Up als Kassette - die erlebt ja gegenwärtig ein grosses Revival. Wie kam es dazu?
Lange war Vinyl das Medium für Releases von kleinen und mittleren Bands. Durch den ganzen Hype um Schallplatten, haben aber auch die grossen Player im Musikbusiness gemerkt, dass sich mit Plattenverkäufen wieder Geld verdienen lässt. Einerseits ist es schön, dass auch physische Tonträger wieder relevanter sind. Andererseits schauen durch die begrenzten Kapazitäten in den Presswerken und die steigenden Preise eben vor allem die kleinen Bands in die Röhre. Deshalb weichen wohl momentan viele auf das nächste vermeintlich redundante Medium zurück. Eben, die Kassette. Abseits davon reizen uns aber auch die klanglichen Eigenheiten von Tape. Die ganz gut zu den verspulten, träumerischen Lyrics, Vergangenheitsbewältigung und dem vorhin angesprochenen Collage-Aspekt passen.
Die Artworks zur Platte und den Singles stechen auch sofort ins Auge! Bist du auch dafür verantwortlich? Gibt es da ein überstehendes Konzept? Einen roten Faden?
Ja, die Artworks stammen alle von mir und waren ursprünglich für drei 7“ Singles auf Vinyl gedacht. Die Idee war, sich daraus eine kleine Briefmarkensammlung fürs Plattengestell machen zu können. Die Briefmarken markieren dabei sprichwörtlich wichtige Ereignisse in meinem Leben und spielen mit der Idee wie wir unsere Vergangenheit im Gedächtnis behalten. In meinem Fall wohl gerne als Comic. Haha. Alternativ gibt’s die Prints jetzt an unseren Konzerten auf schönen Shirts zu kaufen.
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