Über die Kunst in der Literatur
Martina Clavadetscher trifft Eckhart Nickel: Gleich zwei vielfach ausgezeichnete Autor:innen der deutschsprachigen Literaturszene lesen am 11. März im Kunstmuseum Thurgau aus ihren aktuellen Werken. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Was für ein Kunstgriff: Gleich zwei renommierte Schriftsteller:innen in ein Kunstmuseum einzuladen, deren aktuelle Werke die Bildende Kunst und ihre Rezeption zum Thema machen. Wobei beide Bücher in ihrer Haltung der Kunst gegenüber nicht unterschiedlicher sein könnten.
Der literarische Abend mit Doppellesung und Diskussion verspricht eine spannende Gegenüberstellung zweier Werke, die Lust auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Kunst erlauben: Da ist zum einen Eckhart Nickels „Spitzweg“, in dem den grossen Werken der Kunstgeschichte gehuldigt wird und in dem es um eine weniger kritische Haltung des Autors gegenüber den gefeierten Kunstwerken an sich geht. Zumindest spielen die gesellschaftlichen Bedingungen ihres jeweiligen Entstehungsprozesses keine zentrale Rolle.
Martina Clavadetscher hingegen wendet sich in ihrem Buch zwar nicht gegen die Bildende Kunst und die Werke an sich, sondern gegen die Objektivierung der auf die Leinwand gebannten Subjekte. Die Schweizer Autorin gibt den auf den Gemälden berühmter Maler abgebildeten Frauenfiguren eine eigene Stimme und ermöglicht ihnen somit im Nachhinein sich von ihrer ursprünglich zugewiesenen Rolle zu emanzipieren.
Martina Clavadetscher ist Schweizer Buchpreisträgerin 2021
Nach zwei Romanen und einigen Theaterstücken erschien im letzten Jahr der erste Erzählband der Schweizer Buchpreisträgerin. Inhaltlich kreisen ihre 19 Erzählungen um die Frauenfiguren, die auf den berühmten Gemälden grosser Künstler wie etwa Hodler, da Vinci, Schiele, Rembrandt oder van Gogh porträtiert und für die Nachwelt namenlos verewigt wurden. In ihrem Nachwort erläutert Clavadetscher, um was es ihr beim Schreiben der Geschichten gegangen ist:
„Mein Hauptanliegen war es, diese omnipräsent gewordenen Frauen vom Fluch der reinen Körperlichkeit zu befreien. Ich wollte sie beim Namen nennen, ihnen eine Geschichte und vor allem eine Stimme geben.“
Das Buchcover: Vor aller Augen
Mit Walburga Neuzil und der betitelten „auf dem Rücken liegenden Frau“, einem aus dem Jahr 1914 stammenden Gemälde des Wiener Malers Egon Schiele, fing für Clavadetscher die konzeptionelle Auseinandersetzung an:
„Ich entschied, den Text aus Walburgas Perspektive zu schreiben, aus der Sicht einer Frau, deren Namen nirgends auf dem Bild zu finden ist.“
Eine Folie für Fiktionalisierung
Clavadetscher nutzt die Biografien der porträtierten Frauen als eine Art Folie für ihre Fiktionalisierung. Dieser besonderen Vorgehensweise bewusst, schreibt sie:
„Diese Leben trotzdem zu erzählen, gehört zur wunderbaren Arbeit einer Autorin. Literatur ist immer Behauptung. Literatur ist lustvolle Grenzüberschreitung. Sie erzählt die Geschichten anderer.“
Mehrheitlich findet die Autorin den richtigen Tonfall, schafft eigenständige und überzeugende Atmosphären und lässt längst vergangene Zeiten literarisch glaubhaft aufleben.
SRF Kultur: Zwei mit Buch / Martina Clavadetscher
Eine Ausnahme bildet die Erzählung „Dame mit dem Hermelin“: Hier wirkt der gewählte Einstieg leicht konstruiert - Clavadetscher lässt die Porträtierte von Anfang an über ihre möglichen Betrachter zürnen, was als Textanlage sprachlich recht eng geführt wirkt. Was den Stil angeht, ist dieser Text jedoch wie alle anderen im Band vorliegenden Texte hervorragend gearbeitet; etwa, wenn Cecilia Gallerani die folgenden Worte in den Mund gelegt werden:
„Ich weiss, wie es dazu kam, dass zu jenem Zeitpunkt in meinem Bauch bereits die Mutterbänder zogen, weiss, dass sie eine innere Ahnung zur Gewissheit dehnten.“
Die 1979 geborene Schriftstellerin und Dramatikerin Martina Clavadetscher ist eine durch und durch souveräne Erzählerin. Nach der ergiebigen Lektüre weitet sich der Blick auf die porträtierten Frauen radikal: von reinen Objekten zu eindringlichen und kritischen Stimmen ihrer Zeit. „Vor aller Augen“ ist damit ein im besten Sinne feministisches Buch.
Eckhart Nickel war auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises
Mit seinem bisher zweiten Roman, auf dessen biedermeierlichem Buchcover eine Figur Carl Spitzwegs uns den Rücken zuwendet, schaffte es der Freund und literarische Weggefährte Christian Krachts im letzten Herbst auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Dabei ist Nickels exzentrisch anmutender Roman ein wundersames Spiel mit etlichen Verweisen und Anspielungen auf die Kunst und Kultur der letzten Jahrhunderte: etwa auf Shakespeare, Goethe, Baudelaire, Thomas Mann, Wittgenstein oder auch den amerikanischen Filmemacher Wes Anderson.
Buchcover: Spitzweg
Die Bildende Kunst steht von Beginn an im Zentrum der Geschichte, auch wenn sie zuallererst vom jugendlichen Erzähler kritisch beäugt wird:
„Gemälde an sich, wozu sind sie gut? Bevor ich eine Landschaft an die Wand hänge, blicke ich doch lieber durch ein Fenster auf sie hinaus.“
Mit seinen langen Satzkaskaden und originellen Denkfiguren versteht es Nickel, seine Leserschaft unmittelbar in den Bann zu ziehen. Dem namenlosen Erzähler im Roman legt der Autor beispielsweise folgenden rhythmisierten Satz in den Mund:
„Das hat mir eine unerhörte Begebenheit in der Schule vor Augen geführt, und es brauchte die Überzeugungskraft einer einzig und allein aus der Kunst abgeleiteten Existenz, um mich vom Gegenteil zu überzeugen: dem Wunder der Kunst, eine Vision der Wahrheit in ästhetischer Form anschaulich verdichten zu können.“
Originell und kunstvoll
Und so folgt man dank des originellen und kunstvollen Schreibstils, die Ästhetik bewundernd, den drei Hauptfiguren des Romans, die bereits auf den ersten Seiten vorgestellt werden: Alles beginnt im Kunstunterricht einer Abiturklasse mit einem Selbstporträt. Es folgen eine Beleidigung einer Schülerin, ein Kunstdiebstahl und ein Racheplan mit Showdown im Museum. Der Autor schickt seine Romanfiguren auf eine wahnwitzige Schnitzeljagd, bei der die Kunst zur Inspirationsquelle und zur Lehrmeisterin wird.
Das Buch ist ein Roman über Freundschaft; nicht zuletzt aber auch ein Plädoyer für die Kunst als Lebenshilfe.
Lesenswert Quartett mit Denis Scheck / Eckhart Nickel: Spitzweg
Eine klare Vorstellung dessen, was er mit seinem vorliegenden Roman aussagen möchte bzw. als wesentliches Ziel verfolgt, macht Eckhart Nickel durch seine folgende Aussage überdeutlich:
„Der Roman ist vor allem eine Feier der analogen Bildbeschreibung, auch der analogen Bildanfertigung. Also, irgendwo im Roman sagt es Carl mal so: `Der grosse Schritt muss sozusagen von der Aufzeichnung zurück zur Zeichnung gehen.` Eigentlich geht es ex negativo natürlich um eine Feier des Analogen und dadurch natürlich auch um eine Absage an das Digitale.“
Eindeutiger und eindringlicher kann eine Kritik am vorherrschenden Zeitgeist wohl kaum formuliert werden. Das Buch des 1966 in Frankfurt am Main geborenen Schriftstellers und Journalisten ist ein klug komponierter und unterhaltsam geschriebener Bildungsroman, dessen bisweilen leicht grenzwertige Figurenrede – vor allem die gewollt humorvoll daherkommenden Stellen - etwas Nachsicht bei der Rezeption verlangen. Nichtsdestotrotz ist der Roman ein erzählerischer Wurf, auch wenn er alles in allem etwas zu manieriert daherkommt.
Doppellesung im Museumskeller
Der literarische Abend im Kunstmuseum Thurgau beginnt um 18 Uhr mit der Lesung von Martina Clavadetscher. Nach einer Pause mit Apéro geht es dann um 20 Uhr weiter mit der Vorstellung des Romans von Eckhart Nickel.
Beide Lesungen finden im Museumskeller statt. Das Kunstmuseum Thurgau ist am 11. März durchgehend von 11 bis 21.30 Uhr geöffnet. Der Museumseintritt berechtigt zur Teilnahme an der Lesung. Eine Anmeldung ist erwünscht.
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