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von , 25.09.2023

Lange Nacht der literarischen Debüts

Lange Nacht der literarischen Debüts
Lesen bei der langen Nacht der Debüts am 30. September in Frauenfeld (von links): Bettina Schleiflinger, Edith Gartmann, Lidija Burčak, Behzad Karim Khani und Elena Fischer. | © zVg

Am 30. September lädt die Theaterwerkstatt Gleis 5 zur ersten langen Nacht der Debüts nach Frauenfeld ein. Mit dabei sind die Autor:innen Bettina Scheiflinger, Edith Gartmann, Behzad Karim Khani, Elena Fischer und Lidija Burčak. Neben den Lesungen findet ein Gespräch zwischen Michèle Minelli (Schreibcoach und Schriftstellerin) und Cornelia Mechler (Geschäftsführerin des A*dS) zum Thema „Das erste Buch – Mit dem Schreiben anfangen“ statt. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)   

Jedes Jahr stapeln sich in den Buchläden eine Unmenge von Neuerscheinungen der Frühjahrs- und Herbstprogramme grosser wie kleiner Verlage. Laut offizieller Statistik wurden im Kalenderjahr 2022 allein in der Schweiz 12.828 neue Bücher publiziert. Einige dieser Bücher sind sogenannte Erstlingswerke und stammen von Autor:innen, die einen ersten Schritt in den Buchmarkt gewagt haben. Den Überblick über diese vielen veröffentlichten Debüts zu behalten, scheint zwar möglich, sie alle kritisch zu lesen und sich ein genaues Bild von ihnen zu machen, aber doch recht illusorisch. 

Aufgrund dessen ist es auch nicht verwunderlich, dass die in Konstanz lebende Literaturkennerin und -veranstalterin Judith Zwick – bei der ersten Debüt-Nacht am 30. September verantwortlich für das Gesamtprogramm - beim Sondieren deutschsprachiger Debüts klare Kriterien für die Auswahl der fünf Lesenden festzulegen hatte; wobei sie auf Nachfrage zuallererst ein sehr naheliegendes und überzeugendes Kriterium für die Wahl der fünf Autor:innen nannte: „In erster Linie kam es mir darauf an, gute Geschichtenerzähler:innen und gute Geschichten nach Frauenfeld einzuladen. Thematisch war ich da auf nichts festgelegt.“ 

Auswahl zeigt grosse Spannbreite

Beim Blick auf die Erstlingswerke der in die Theaterwerkstatt Gleis 5 geladenen Autor:innen lässt sich das Gesagte schnell verifizieren: Thematisch zeigt sich bei den Büchern eine immense Spannbreite – mal geht es um das Heranwachsen eines sensiblen Mädchens in grosser Einsamkeit in den Schweizer Bergen („Schongebiet“ von Edith Gartmann), mal um die Geschichte einer Migration zweier Brüder und ihrem Überlebenskampf in der Grossstadt Berlin („Hund, Wolf, Schakal“ von Behzad Karim Khani). Und auch was die erzählerische Kraft der literarischen Stoffe angeht, verspricht die Lektüre so einiges: Insbesondere liegen mit den Romanen „Hund, Wolf, Schakal“ und „Schongebiet“ höchst originelle Erzählstoffe vor, die inhaltlich wie formal Grenzen ausloten.     

Mit „Nöd us Zucker“, der 1983 in Winterthur geborenen Autorin und Filmemacherin Lidija Burčak, kommt zudem kein genuiner Roman auf der Programmliste der Debüt-Nacht vor, sondern ein emotional aufwühlendes Tagebuch, das die Autorin im Alter zwischen 15 und 33 Jahre geschrieben hat. Direkt und unmittelbar erfährt man hier in Auszügen von den Sorgen und Wünschen einer heranwachsenden Seconda.

Besonders interessant dabei: Für die Publikation der Tagebuchtexte wurde kein einziger Satz verändert. Darüber hinaus ist das Buch von Anfang bis Ende in Mundart geschrieben und für Judith Zwick damit der optimale Text um die Nacht der Debüts in einem lockeren Ton abzuschliessen: „Ich hocke uf mim Bett, lose Oasis und bin chli truurig. Mini Eltere sind Arschlöcher. Am letschte Fritig hani wieder emal ghüüled und sie hend mit mir gredt. Natürlich nöd richtig.“ So liest sich einer der Tagebucheinträge, der im Buch mit „Sunntig, 7. Februar 1999 / 18:05“, datiert ist.  

Trailer Nöd us Zucker:

 

 

Neben Lidija Burčak wird auch Bettina Scheiflinger an diesem späten Abend aus ihrem aktuellen Werk lesen. Organisatorin und Moderatorin Zwick hat die 1984 geborene Wilerin eingeladen, weil es ihr, wie sie sagt, ein grosses Anliegen gewesen war einer Schriftstellerin aus der Region eine Bühne zu geben. Aus der Ich-Perspektive einer jungen Frau erzählt, ist das im August 2022 erschienene Buch mit dem Titel „Erbgut“ ein durch und durch beklemmendes Generationenporträt, das nicht simpel chronologisch die Geschehnisse aufrollt, sondern sprunghaft und in starken und nachklingenden Sprachbildern und Szenen von Traumata und einem grossen Schweigen innerhalb einer Familie berichtet. Das liest sich dann so: „Bei meiner Geburt jage ich meiner Mutter einen Schrecken ein. Mich muss man nicht aus ihr herausholen, ich will von selbst aus ihr raus. Ich presse mein Gesicht als Erstes durch den Geburtskanal. Augen voran komme ich zur Welt.“        

Die Bücher von Scheiflinger und Burčak stammen aus dem Jahr 2022. Für den Buchmarkt sind sie somit schon längst Geschichte. Für Judith Zwick war dieser Umstand nicht von Belang. Über die Schnelllebigkeit des Buchmarktes meinte sie dann auch: „Absolute Aktualität war mir nicht wichtig. Warum auch? Es sind ja noch immer Debüts und ich fühle mit den frisch gebackenen Autor:innen. Denn kaum ist ihr Buch auf dem Markt, kommen Monat für Monat schon die nächsten nach und in der Berichterstattung kann das eigene schnell wieder in den Hintergrund rücken.“

Ein Kurz-Roman von Edith Gartmann

Keineswegs in den Hintergrund gerückt und damit nahezu vergessen, ist der schmale Band „Schongebiet“ der mittlerweile in Basel lebenden Autorin Edith Gartmann. Vielmehr gibt es gerade in letzter Zeit immer mal wieder wertschätzende Stimmen, die sich mehr als lobend über den dicht geschriebenen Kurz-Roman äussern: „Edith Gartmann hat mich mit ihrem Debüt tief beeindruckt. Ein Buch wie ein Bergkristall, der das Licht in alle Farben bricht. Ein Buch, das mit grosser Zärtlichkeit aus der Sicht eines Mädchens erzählt, der kaum jemand hilft, ihre noch kleine Welt zu entschlüsseln. Ein Buch, das man nach der Lektüre ans Herz drückt und gar nicht ins Regal schieben will“, schreibt der Thurgauer Literaturvermittler Gallus Frei-Tomic in seinem Literaturblog. 

Video: Lange Nacht der Debüts – Literaturhaus Zürich 2022 - Lesung und Gespräch mit Edith Gartmann ab Min. 17:30 

 

Wer den Text von Gartmann nicht kennt, wird bereits in den ersten Sätzen des Romans die besondere Kraft sowie den eigenständigen Ton ihrer Worte erkennen: „Meine Lehrerin kommt aus dem Unterland. Ihre Hand ist weich wie Alpbutter. Wenn wir uns im Kreis aufstellen, versuche ich, den Platz neben Frau Bader zu ergattern und ihre Hand zu halten. Eigentlich bin ich schon zu alt dafür, aber zum Glück lacht niemand. Ich kenne keine Hand wie die von Frau Bader. Mutters Hand ist groß und fest.“ 

Deutlich jünger als die 56-jährige Gartmann, und im Gegensatz zu ihr nicht in einem Luzerner Kleinverlag (edition bücherlese), sondern im renommierten Schweizer Verlag Diogenes, beheimatet, ist die in Mainz lebende Schriftstellerin Elena Fischer, deren vielbesprochenes Debüt mit dem Titel „Paradise Garden“ es sogar bis auf die Longlist des „Deutschen Buchpreises 2023“ geschafft hatte. Fischer erzählt darin die Geschichte der 14-jährigen Billie, die die meiste Zeit ihres jungen Lebens in einer Hochhaussiedlung verbringt und plötzlich mit dem Tod ihrer Mutter konfrontiert wird. Auf sich allein gestellt, macht sich Billie in einem alten Nissan auf die Suche nach ihrem Vater und eine aufregende Reise beginnt. 

Der vielfach ausgezeichnete Roman – sowohl ein Coming-of-Age als auch ein Roadmovie-Roman - ist aus der Ich-Perspektive von Billie erzählt und beginnt tragisch: „Meine Mutter starb diesen Sommer. Ein Lied im Radio war nur noch Geräusch und keine Einladung mehr mitzusingen, obwohl keine von uns den Text kannte. Ein Regenguss war nur noch Wetter und keine Gelegenheit mehr, nach draußen zu laufen und barfuß in einer Pfütze zu tanzen.“

Grosses Lob von Elke Heidenreich für einen Debütanten

Das fünfte und letzte Debüt stammt aus der Feder des in Berlin lebenden Schriftstellers und Journalisten Behzad Karim Khani, der in einem Interview mit seinem Verlag (5 Fragen an …) offen zugab: „Das Buch ist entlang meiner Biographie geschrieben. Die Eckdaten sind die meines Lebens.“ 

Khani, in Teheran in eine Künstlerfamilie hineingeboren, ist der einzige männliche Autor des Abends und in der deutschsprachigen Verlagswelt kein Unbekannter: Sein Debütroman „Hund, Wolf, Schakal“ hatte bereits vor seinem Erscheinen für Aufsehen gesorgt, war der Autor doch schon Wochen vorher mit einem Auszug des Romans für den renommierten Bachmann-Preis in Klagenfurt nominiert. Keine Geringere als die Literaturkritikerin Elke Heidenreich lobte im Schweizer Literaturclub den Erstling: „Dieses Buch ist eine Sensation. Das ist mit das Beste, was ich überhaupt gelesen habe ... Grandios! Herzzerreißend!" 

Video: Behzad Karim Khanis Romandebüt „Hund Wolf Schakal“ | Westart | WDR

 

Um einen ersten Leseeindruck zu gewinnen soll an dieser Stelle ein kurzer Auszug zitiert werden. Es ist der Anfang des Romans: „Alles schien gut zu laufen. Alles sah nach Sieg aus. Nach Moral und guter Arbeit. Irgendwo, Hunderte Kilometer entfernt, in einer ocker- und lehmfarbenen Kargheit auf sonnenverbranntem Sand und olivgrünen Flüssen lief der Krieg auf ein Happy End zu, wenn man dem Fernseher Glauben schenkte, wenn man also ein Kind war. Saam war ein Kind. Und in seinem Leben gab es zwei Monster. Eines davon war der Krieg. Der Krieg, das war dieser Riese, der hinter dem Berg lebte. In Teheran war das so.“ 

Selbst hier, in dieser kleinen Passage, spürt man die Direktheit und Griffigkeit des Textes und bekommt eine erste Ahnung von dem, was das Geschriebene zu leisten vermag. 

Neben den vielversprechenden Lesungen der Autor:innen, die an diesem Abend in einzelne Leseblöcke eingeteilt sind, findet ein längeres Gespräch zwischen Schreibcoach und Schriftstellerin Michèle Minelli und Cornelia Mechler, der neuen Geschäftsführerin des Verbandes der Autorinnen und Autoren der Schweiz (A*dS ) zum Thema „Das erste Buch – Mit dem Schreiben anfangen“ statt. Als Randnotiz sei hier noch erwähnt, dass Bettina Scheiflinger Kursteilnehmerin der Thurgauer Autorin Michèle Minelli (Schreibwerk Ost) gewesen war.

 

„Wir sind hier eben eine Werkstatt, da wird produziert und getüftelt, mit Texten gearbeitet und Formate ausprobiert. Da passen die literarischen Debüts optimal rein.“

Judith Zwick, Literaturwissenschaftlerin

Wie naheliegend es für die studierte Literaturwissenschaftlerin Judith Zwick letztendlich gewesen war, insbesondere die Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld als Leseort für Debüts auszuwählen, beantwortet sie ohne grosses Nachdenken: „Wir sind hier eben eine Werkstatt, da wird produziert und getüftelt, mit Texten gearbeitet und Formate ausprobiert. Da passen die literarischen Debüts optimal rein.“

Wer sich also für gute Literatur und deren Entstehungsbedingungen interessiert, sollte den Besuch der mehrstündigen Abendveranstaltung am 30. September nicht verpassen. Eine solche Gelegenheit ergibt sich nicht allzu oft.               

Nähere Informationen zu Ticketpreisen und Programm findet man hier.

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