Im Strom der Revolution
Ein erschütterndes Zeugnis über Wahlfälschung, Repression und Folter: In „Acht Tage der Revolution“ analysiert Artur Klinau sowohl die politischen Machtverhältnisse in Belarus, als auch die geopolitischen Interessen von Seiten Russlands im Jahr 2020. Am 9. Februar stellt der Autor sein Werk im Literaturhaus Thurgau vor. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Artur Klinau ist Exilant. Aufgrund eines zugesprochenen Stipendiums der Kulturstiftung des Kantons Thurgau arbeitet er zurzeit in den Räumlichkeiten des Literaturhauses in Gottlieben. Bis nach Minsk, seiner Heimatstadt, sind es etwas mehr als 1.800 Kilometer. Mit dem Auto wäre das eine Fahrt von fast 20 Stunden. So weit entfernt kann Heimat sein.
Weit im Osten liegt Belarus, früher Weissrussland genannt. Es grenzt an Polen, die Ukraine, Russland, Lettland und Litauen. Seit Mitte der 90er Jahre wird es mit harter Hand von Alexander Lukaschenko regiert. Jedwede Kritik an Staat und Präsident wird seitdem im Keim erstickt. Das war 2010 so und auch im Sommer 2020, als die Revolution vor Ort acht Tage lang die Schlagzeilen der Nachrichtensendungen beherrschte.
Als Dissident kennt er das Regime nur zu gut
Seit der Machtübernahme Lukaschenkos im Sommer 1994, ist Klinau einer seiner grössten Kritiker. Als Dissident kennt er das Regime nur zu gut, hat es 26 Jahre lang intensiv studieren können und seine Launen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Er weiss genau, was politisch machbar ist und was man besser sein lässt. Seit etlichen Jahren lebt er daher nicht mehr in der Hauptstadt Minsk, sondern in einem Dorf etwas ausserhalb. Seitdem die Situation im Land erneut eskalierte, half nur die Flucht. Seither lebt er im Exil.
In seinem bereits 2021 im Suhrkamp Verlag erschienen dokumentarischen Journal hält Klinau minutiös fest, was mit einer kritischen Zivilgesellschaft in Belarus passiert, wenn sie gegen Wahlfälschung und Repression auf die Strasse geht, sich auflehnt, und damit versucht die politischen Verhältnisse auf friedlichem Wege zu verändern. Das Journal ist eine bitterböse Abrechnung mit den Verhältnissen, poetisch und aufwühlend zugleich.
Video: Die Sendung Titel Thesen Temperamente berichtet über Artur Klinau
Im Buch verknüpft Klinau auf sehr intelligente Weise die aufkommenden Proteste im Land sowie die plötzliche Festnahme seiner 26-jährigen Tochter Marta mit einer profunden und kritischen Analyse des herrschenden Systems.
Obwohl selbst vehementer Gegner Lukaschenkos, kommt für ihn der Protest, der sich zu einem regelrechten Volksaufstand hochschaukelt, zu einer Unzeit – schliesslich ist er sich sicher, dass eine Destabilisierung des Systems in diesen Tagen und Wochen zu heftigen Reaktionen von Seiten des Staatsapparates führen wird. Dass er mit seiner Einschätzung recht behält, zeigt sich schnell: Auf die friedliche Revolution folgt aus dem Stand heraus die blutige Konterrevolution.
Eine Mischung aus Thriller, Horror, Krimi und Historischem Roman
Klinau beschreibt diese Zeitspanne zwischen dem 8. und 16. August 2020 bis ins kleinste Detail. Literarisch ist das alles sehr gekonnt gemacht. Das 265 Seiten umfassende Buch liest sich wie eine Mischung aus Thriller, Horror, Krimi und Historischem Roman.
Literarisch arbeitet der versierte Autor mit einer sehr bildlichen, ja sinnlichen Sprache: Stadt und Menschen hat man direkt vor Augen. Mit wenigen Pinselstrichen zeichnet er Figuren und Orte. Souverän erzählt er von den politischen Aufständen und ihren blutigen Niederschlagungen, wobei er, was den örtlichen Fokus angeht, weitestgehend die Vorgänge in der Hauptstadt unter die Lupe nimmt. Die Peripherie spielt daher auch eine eher untergeordnete Rolle.
Überall lauert Gewalt
Klinau ist ein äusserst genauer Beobachter und nutzt seine weitreichenden Kenntnisse über den Machtapparat um den durch und durch autoritären Charakter des autokratischen Systems bis ins Kleinste offenzulegen. Das, was er darüber berichtet, ist schwer verdaubare Kost. Denn überall lauert Gewalt.
Die von ihm gesammelten und im Buch ausgebreiteten Augenzeugenberichte, welche mitunter mehrere Seiten umfassen, gehen derart unter die Haut, dass es streckenweise kaum auszuhalten ist. Dramaturgisch gekonnt, koppelt Klinau die Gewalt des Systems mit dem Verschwinden seiner Tochter und mischt hierbei Analyse, Wutrede und Dokumentarisches zu einem einzigartigen literarischen Text.
Video: arte über Belarus
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko wird an keiner Stelle mit seinem richtigen Namen genannt; Klinau bezeichnet ihn in der Mehrzahl ironisch als „Batka“, als Landesvater, aber auch als ein unpersönliches „Er“ sowie als sogenannten „Künstler-Didakten“, was durchweg spöttisch gemeint ist. Mit den Nationalfarben von Belarus, dem Grün und dem Rot, würde der vermeintliche Künstler stets nur ein Braun erzeugen, meint Klinau; eines, das er auf die Welt draussen gerne übertragen würde, und dessen Werk er selbst mit dem Begriff der „Stabilität“ auf den Punkt bringen würde:
„Er [war] ein Primitivist, der mit der Axt malte. Das war selbst für meine Verhältnisse zu radikal. Er tauchte die breite Klinge in Farbe und fuhr damit über die Leinwand. Sein Werk war sonderbar, es wurde mit jedem Strich monochromer. […] Überhaupt endete alles, was er malte in 101 Brauntönen.“
Im Gegensatz zu Lukaschenkos in braunen Farben gehaltenen Gemälde rekurriert Klinau im Falle von Putin, den er im Text nur den „Kreml-Starzen“ nennt, auf einen „Künstler“, der sein ureigenes Gemälde in den russischen Nationalfarben Rot und Blau male:
„ […] das lief bei jedem Mischungsverhältnis auf Schwarz hinaus. Manchmal gab er etwas Weiss dazu, dann wurde es Grau.“
Hatte der „Batka“ seinem Gemälde den Titel „Stabilität“ verpasst, sollte das Bild des „Starzen“ den unvergleichlichen Titel „Grösse“ erhalten:
„Belarus ist immer brauner geworden, gleicht immer mehr dem Gemälde „Stabilität“ des Batka. Manchmal scheint es, dass der Starze kurz davor steht, es mit einem Strich seinem Meisterwerk mit dem Namen Grösse einzuverleiben. Sich einen Traum zu erfüllen.“
Bildstark und fulminant
Derart bildstark schreibt Klinau, dass man in einen fulminanten Sog gerät, der einen nicht mehr loslässt. Und so fiebert man mit, wenn Klinau auf der Suche nach seiner Tochter ist, weil er ja nicht weiss, in welchem Gefängnis und unter welchen Bedingungen man sie festhält. Klar ist nur, dass man ihr innerhalb von 36 Stunden den Prozess machen muss. Aufgrund der sich abzeichnenden Wahlfälschungen, und der revoltierenden Bevölkerung, ist Klinau als politischer Beobachter und Vater hoch alarmiert. Vor allem die Ausrufung des offiziellen Wahlsiegs Lukaschenkos am 9. August bringt ihn zu folgendem Gedankenspiel:
„Mir war sofort klar, dass die Katastrophe eingetreten war. Ein Aufruhr war unvermeidlich. Das Regime verhöhnte nicht einfach schamlos den gesunden Menschenverstand, es spuckte den Wählerinnen und Wählern offen ins Gesicht. […] Alles knapp über 50 Prozent, 55, 57, sogar 62 hätten viele noch hingenommen. […] Aber 80 Prozent - das war eine Provokation.“
Im Zuge der Wahlen flammen Proteste auf. Das erste Blut des Tages fliesst. Zehntausende Demonstrantinnen und Demonstranten versammeln sich in der Hauptstadt Minsk, während die Staatsgewalt mit aller Brutalität gegen die kritische Öffentlichkeit vorgeht.
Video: SRF Gredig Direkt mit der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja
Eine kafkaesk anmutende Veranstaltung
Swjatlana Zichanouskaja, eine der Herausforderinnen Lukaschenkos, die in zahlreichen Wahllokalen, dort, wo nicht manipuliert wurde, eine klare Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann, schreckt schon bald vor der rigiden Gewalt des Regimes zurück; nach Litauen geflohen, hält sie sich mit ihren Aussagen eher zurück:
„Sie wusste natürlich, dass ihr nun eine Anklage wegen der Organisation von Massenunruhen drohte, also zwischen fünf und fünfzehn Jahren Gefängnis.“
Der Autor schreibt, dass bereits am 2. Tag der Proteste 3000 Menschen landesweit inhaftiert wurden. Im Vergleich zu 2010 eine erschreckend hohe Zahl. Dennoch ebben die Proteste nicht ab. Am 3. Tag findet schliesslich die Verhandlung Martas statt. Klinau ist vor Ort, ist Zeuge der nur 25 Minuten dauernden Verhandlung: einer kafkaesk anmutenden Veranstaltung; mit einem Richter als Handlanger des Systems. Klinau beschreibt diesen Menschentypus folgendermassen:
„Den anderen Typus [im Gegensatz zu den brutal vorgehenden Sicherheitskräften] musste er dagegen mit Verstand und Gedächtnis ausstatten, allerdings so, dass sie zwar alles kapieren und behalten können, sich aber nicht zu eigenen Gedanken versteigen. Vor allem durften sie nicht vergessen, wer ihr Schöpfer ist, wem sie alles zu verdanken haben, und mit wem sie auf ewig in krimineller Komplizenschaft verbunden sind.“
Sämtliche Einwände der im Gerichtssaal anwesenden Verteidigerin werden auf der Stelle abgeblockt. Das System akzeptiert keinen Widerspruch, es urteilt nur. Am Ende lautet der Richterspruch: Fünfzehn Tage Arrest. Unter gewöhnlichen Bedingungen wäre ein solcher Arrest womöglich zumutbar. Aber die Zeiten sind andere: die Gefängnisse heillos überfüllt, die Brutalität der Sicherheitskräfte wächst ins Unermessliche.
Video: Belarus: Volk gegen Diktator | WDR Doku
Die Wut wächst
Doch obwohl das Vorgehen des Staates derart brutal ist, lässt sich die Protestbewegung vorerst nicht mundtot machen. Und selbst das staatliche Abschalten des Internets führt nicht zu einem Einbruch der Kommunikation. Die Protestierenden finden Alternativen: Telegram-Kanäle erleben regen zulauf. So wächst Nexta, einer der Kanäle, von 300.000 Abonnenten vor der Wahl auf über 1 Million Abonnenten, Tendenz steigend, am 3. Tag der Revolution.
Berichte vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte werden derweil publik. Klinau integriert sie in seinen hochspannenden Text. Sei es der unfassbare Bericht über die Minskerin Inna. R. und ihres kleinen Sohnes, der Bericht eines russischen Pressevertreters, der auf brutalste Weise zugerichtet wird, oder die Berichte über den 16-jährigen Timur und einen Mann namens Alexander - die eingeschobenen Textfragmente machen das Unvorstellbare vorstellbar.
Das System gewinnt die Kontrolle zurück
Zunehmend gewinnt das System an Kontrolle zurück, fühlt sich unangreifbar, wobei die Demonstrationen der Bevölkerung weitergehen. Marta, die vorzeitig aus der Haft entlassen wird, ist am 8. Tag der Revolution erneut bei einer öffentlichen Versammlung von 250.000 Menschen dabei. Parallel zur Versammlung hält der „Batka“ auf einem zentralen Platz der Stadt eine Rede vor wenig Publikum:
„Er dröhnt, gestikulierte, schrie, sprach zu dem Platz … Doch der Platz war leer. Selbst wenn sie ihn hätten hören können – die wenigen Tausend graubraunen Menschen, die dort standen, konnten nichts mehr für ihn tun. Er sprach zu einer Leere, die mit leeren Augen zurückblickte. […] Das Regime wollte nicht wahrhaben, dass sich die Gesellschaft verändert hatte, dass sie nicht mehr in einem toten Körper leben will.“
Klinaus Journal endet 2021: Seine Tochter Marta hat im Frühjahr des gleichen Jahres ihr Land verlassen, ist nach Kiew gezogen. Zehntausende ihrer Landsleute haben es ihr gleichgetan, aus Angst oder Hoffnungslosigkeit.
„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“
Artur Klinau, Schriftsteller
„Die Stadt ist voller Lücken“, schreibt Klinau, „all die Orte, die es nicht mehr gibt, die Cafés und Galerien. […] Und doch ist die Energie des letzten Sommers nicht verschwunden. Sie hat sich verborgen und wartet. Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst. Wer in den Strom der Revolution eingetreten ist, für den gibt es kein Zurück.“
Das klingt nach einem Hoffnungsschimmer. Und auch nach einem Aufbruch. Doch wann sich das Land politisch neu aufstellt, kann zurzeit niemand sagen.
Die Lesung
Am Donnerstag, 9. Februar, liest Artur Klinau im Literaturhaus in Gottlieben aus seinem Buch „Acht Tage Revolution“. Es moderiert Dr. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Rebecca C. Schnyder liest den deutschen Text. Nähere Infos finden sich auf der Website des Literaturhauses. Ein Gespräch zwischen Lukas Bärfuss und Artur Klinau gibt es hier zum Nachlesen.
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