von Andrin Uetz, 28.03.2024
Zu Unrecht fast vergessen
Am Sonntagabend fand im Rathaus Weinfelden die Buchvernissage von «Hidden Heartache» statt. Das Buch ist im Rahmen der Reihe «Facetten» der Kulturstiftung des Kantons Thurgau entstanden. thurgaukultur.ch war dabei und durfte sich ein Exemplar mit nach Hause nehmen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Eine Buchvernissage könnte – bis auf den obligatorischen Apéro – eine ziemlich trockene Veranstaltung sein. Ein paar Grussworte und eine Danksagung, ein Gespräch zwischen Autor:in und Verleger:in, etwas Moderation, dazu ein-zwei Abschnitte mit einer Lesung.
Wenn aber Simone Keller auf der Bühne steht, so sieht die Welt anders aus. Sie kann nicht nur als Pianistin den Saal für sich und ihre Kunst begeistern, sondern sie steht auch als Persönlichkeit für ihre Projekte ein. Und Begeisterung ist ansteckend.
Nicht nur Musik von weissen Männern, die bereits gestorben sind
Geladen wurde im schmucken und repräsentativen Rathaussaal zum «Konzert und Vortrag», und Simone Keller betonte in ihrer kurzen Begrüssungsrede, dass sie zwar sehr gerne Musik von «weissen Männer spiele, die bereits gestorben sind», es aber jenseits dieses gängigen klassischen Repertoires sehr viel mehr zu entdecken gibt. Genau darum geht es beim Projekt «Hidden Heartache», welches neben der Buchpublikation auch eine gleichnamige CD (Intakt Records) sowie die «Hidden Tour» beinhaltet mit Konzerten an verschiedenen Orten: Anlässlich des 100 Geburtstags der afroamerikanischen Komponistin Julia Amanda Perry (1925–1979) hat Simone Keller 100 Minuten Musik von Musiker:innen aufgenommen, welche im Kontext von «100 Jahren gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnissen» bisher zu kurz kam.
Spätromantik vom Bodensee
Im Rathaus Weinfelden konnte das Publikum so unter anderem die Musik von Olga Diener (1890–1963) kennenlernen. Die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler führte mit einem Vortrag in das Leben und Werk dieser nur marginal wahrgenommenen Komponistin und Schriftstellerin aus St. Gallen, welche längere Zeit in Altnau gelebt hat, ein. Simone Keller spielte drei ihrer Kompositionen, welche etwas an den spätromantischen Salon-Stil von Alexander Skrjabin, aber auch Elemente des Impressionismus von Erik Satie denken lassen. Aus heutiger Perspektive ist die Frage berechtigt, warum damalige Gatekeeper wie Hermann Hesse – mit dem Olga Diener befreundet war – ihren Schreib- und Komponierstil als zu «verträumt» abgetan haben, wo hingegen ihre männlichen Kollegen als grosse Mystiker gefeiert wurden?
Klasse Musik statt Scheuklappen-Klassik
Lässt sich die Musik von Olga Diener noch relativ klar in einen Musikbereich zuordnen, der in Europa als «Klassik» zusammengefasst wird, so wird die Musik, welche der syrische Musiker Abathar Kmash (*1987) mit seiner Oud vortrug, hierzulande gerne als orientalische Musik oder unter dem Label der «Weltmusik» vermarktet. In Damaskus, wo Kmash studiert und bis 2015 in verschiedene Orchestern und Formationen mitgewirkt hat, dürfte seine Musik gleichwohl als klassische Musik rezipiert werden. Erfreulicherweise unterstreicht «Hidden Hearthache» diese Mehrperspektivität, in dem verschiedene Stile und Kompositionen in gleichwertiger Weise in einen Dialog gesetzt werden. So spielen Abathar Kmash und Simone Keller im Duo unter anderem auch Arrangements von Songs der libanesischen Sängerin Fairuz.
Ein mehrsprachiges Kunstbuch mit Noten und Essays
Abgerundet wurde der Abend dann durch einen von der Kulturstiftung Thurgau offerierten Apéro. Auf einem Büchertisch gab es zudem die neue Publikation zu erwerben. Facetten #21 wurde in Zusammenarbeit mit dem St. Galler Kunstverlag Jungle Books publiziert und ist von grosszügigem Umfang und Inhalt. In der Mitte des Buchs findet sich eine herausnehmbare Einlage mit Noten von je einer Komposition von Irene Higginbotham, Olga Diener, Julia Amanda Perry und Cristina Janett. Darüber hinaus besteht das Buch aus einer Sammlung von Essays und Texten, welche sich teils auf die Kompositionen beziehen und/oder ganz allgemein als Stimmen gegen soziale- und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse gelesen werden können. Dabei fällt auch die schöne typografische Gestaltung und die Mehrsprachigkeit (Englisch und Deutsch) ins Auge.
Das Buch ist erhältlich auf jungle-books.com. Die CD kann auf intaktrec.ch bestellt werden.
Weitere Beiträge von Andrin Uetz
- «Eine Knochenarbeit, die mich bereichert!» (22.11.2024)
- Der Boden, auf dem wir stehen (06.05.2024)
- Feinsinnige Klangfarben und packende Soli (21.02.2024)
- „Gute Vernetzung ist wichtig” (01.02.2024)
- «Es ist faszinierend, wie alles zusammenkommt» (13.11.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Bericht
- Klassik
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Die Musikerklärer
Hört man Musik anders, wenn man weiss, wie sie entstanden ist? Das Orchester Divertimento hat ein spannendes neues Musikvermittlungsprojekt gestartet. mehr
Schläft ein Lied in allen Dingen
Der Südtiroler Vollblut-Musiker Max Castlunger entwickelt Musikinstrumente aus Zivilisationsrückständen. „Upcycling Music“ ist ein brückenbauendes Projekt zwischen den Generationen. mehr
«Das ist eine unglaubliche Kraft!»
Wie ist es, mit einem grossen Orchester zu arbeiten? Der Thurgauer Schlagzeuger Fabian Ziegler erklärt es in einer neuen Folge seiner Serie «Zieglers Tournee-Tagebuch». mehr