von Andrin Uetz, 06.05.2024
Der Boden, auf dem wir stehen
Hinterfragt Klischees und Vorurteile: Noch bis zum 20. Mai ist in der Kunsthalle Arbon die Doppelausstellung „Cartography of Identities" der Künstlerinnen Viviana González Méndez und Ana Vujić zu sehen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Die Sonne des warmen Samstagnachmittags wirft einen hellen Lichtkegel auf die Moderatorin Inge Abegglen, die kurzfristig für die grippebedingt ausfallende Kuratorin Martina Venanzoni einspringt. Sie entschuldigt sich dafür, dass Ana Vujić und ihr Partner, Herr Herrli, noch im Stau stecken, weshalb sich die Performance etwas verspäten wird.
Wer sie noch nicht gesehen hat, sollte die Zeit nutzen, sich eine Videoarbeit von Vujić im Obergeschoss anzusehen. Diese zeigt Fundstücke, die die Künstlerin vor 19 Jahren vom Nachttisch ihrer Grossmutter mitgenommen hat. Die Künstlerin blättert in einem Buch mit ins Serbische übertragener russischer Dichtung, in dem verschiedenste Schokoladenpapiere ähnlich wie für ein Herbarium gepresste Blumen aufbewahrt sind. Das Zellophan ist teils schon etwas vergilbt und in die Jahre gekommen, glitzert aber umso mehr im hellen Oblicht der Kunsthalle, wo das Video aufgenommen wurde.
Später im Gespräch wird Ana Vujić erzählen, dass es Jahre gedauert hat, bis sie sich an diese Fundstücke gewagt hat. Es sind Erinnerungen an die Zeit ihrer Kindheit im ehemaligen Jugoslawien, wo sie bei ihrer Grossmutter aufwuchs und ihre Mutter als Gastarbeiterin aus der Schweiz jeweils Schokolade und Süssigkeiten mitbrachte.
Kartografie der Identitäten
Wie der Titel der Ausstellung, übersetzt „Kartografie der Identitäten", schon andeutet, setzen sich die beiden Künstlerinnen in unterschiedlicher Weise mit Themen wie Herkunft, Migration und Identität auseinander. Viviana González Méndez (*1982) kam erst vor einigen Jahren aus Bogotá, Kolumbien, in die Schweiz, arbeitet als Doktorandin an der ZHdK und lebt in Baden. Ana Vujić (*1981) folgte Anfang der 1990er Jahren ihren Eltern in die Schweiz.
Im Gespräch erklärt sie: „Ich kam aus Jugoslawien in die Schweiz und als der Krieg ausbrach, gab es das plötzlich nicht mehr. Hier galt ich als Serbin und in Serbien war ich die Schweizerin." In ihren raumfüllenden, ortsspezifischen Wandmalereien mit schwarzer und roter Tusche nimmt Vujić dieses Thema der inneren Zerrissenheit auf.
Am prägnantesten dargestellt wohl durch das überlebensgrosse Porträt einer Frau, welche beide Arme ausgestreckt hält und in der einen Hand einen Eimer und in der anderen einen Kronleuchter hält. Symbolisch balanciert sie ländliche Arbeit und städtischen Wohlstand, und es ist klar, dass dies sehr viel Kraft braucht und wohl nicht über die Dauer auszuhalten ist.
Auf der Suche nach einem neuen Fundament
Eine der Wandzeichnungen zeigt das frisch gelegte Fundament einer Baustelle, das durch fallende Felsbrocken bedroht ist. Auf einer anderen Wand ist eine Mutter abgebildet, die auf einem prekären Gittergerüst stehend einen Teppich webt, auf dem ihre Tochter sitzt und somit zumindest ansatzweise davor geschützt ist, durch das Raster in die Tiefe zu fallen.
Im Gespräch sagt Vujić, dass Migration für sie stark mit dem Versuch des Bauens eines neuen Fundaments zusammenhängt, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf persönlicher Ebene. Hier klingt das Schicksal vieler Gastarbeiter:innen an, welche oft auf den Baustellen das Fundament für den Schweizer Wohlstand legen, wie auch der Versuch, sich auf neuem Boden, in einem unbekannten Land, heimisch zu fühlen und einen Platz für sich zu finden.
Cubios aus Arboner Lehm
Das Thema Boden und Fundament ist auch in der Arbeit von Viviana González Méndez zentral. Sie versucht immer möglichst mit lokalen Materialien zu arbeiten, und so machte sie sich in Zusammenarbeit mit dem Gartengestalter Pit Altweg auf die Suche nach geeignetem Lehm für ihre Skulpturen.
Fündig wurden die beiden in einer grösseren Baustelle unweit der Kunsthalle, aus deren Seekreideböden die Künstlerin Teile einer Säule der Kunsthalle nachbildete, sowie eine Schubkarre voller Samenbomben in der Form von Cubios herstellte. Die Samen stammen ebenfalls aus der Region, und die Samenbomben dürfen von den Besuchenden nach Belieben mitgenommen werden.
Damit will die Künstlerin das Bewusstsein für Nachhaltigkeit im Kunstbetrieb fördern und die historisch gewachsene (und wohl auch eurozentrische) Trennung zwischen Kunst und Natur aufheben: Ihre Kunst ist quasi zu 100 Prozent biologisch abbaubar.
Bei Cubios handelt es sich um die Frucht der knolligen Kapuzinerkresse. Sie sind in den Anden schon seit Jahrtausenden als Hauptnahrungsmittel bekannt, da in der Höhe von 4000 Metern keine Kartoffeln mehr gedeihen. Indem Méndez die Form dieses indigenen Nahrungsmittels ihrer Heimat mit einem lokalen Material aus Arbon nachbildet, schafft sie einen Transfer zwischen den Ländern und Kulturen.
Fehlender Abfall und vermeintlich heimisches Saatgut
Im Gespräch erzählt Méndez davon, wie schwierig es sei, in der Schweiz an Material für ihre Arbeit zu kommen. Die Künstlerin arbeitet oft mit Abfall und Material aus der Umgebung. In der Schweiz aber gäbe es kaum Abfall, der einfach so zur Verfügung stände. Alles werde verwertet und kapitalisiert.
Pit Altweg wiederum ergänzt, dass ein Grossteil unseres vermeintlich heimischen Getreides und Saatguts ursprünglich aus Asien über Italien nach Europa gekommen sei. Die Frage wird aufgeworfen, wie lange es denn dauere, bis jemand oder etwas heimisch sei an einem Ort?
Argentinische Möwen und ein Ventilator aus einem Belgrader Klo
Dazu passt auch die Sound-Performance von Herr Herrli, der Musik aus Fieldrecordings aus aller Welt macht und der Runde vorab einige der einzelnen Aufnahmen vorspielt. Dabei sind unter anderem Möwen aus Argentinien, eine Lüftung in einem Klo in Belgrad sowie die Aufnahme aus einem Maschinenraum in einem Schiff, welche er ebenfalls in Südamerika aufnahm.
Jede dieser Aufnahmen könnte auch von einem anderen Ort stammen, und doch sind sie Zeugen einer ganz bestimmten Situation an einem bestimmten Ort.
Klingen argentinische Möwen anders als europäische Möwen? Wechseln die Möwen ihre Nationalität, wenn sie lange genug in einem neuen Land sich niederlassen? Vielleicht ist das eines der zentralen Momente dieser Ausstellung in Arbon, die keine einfachen Antworten gibt und das Thema Migration weder ideologisch verkitscht noch übermässig dramatisiert.
Die Ausstellung lädt vielmehr dazu ein, das Thema ganz grundsätzlich zu überdenken und Klischees und Vorurteile in Frage zu stellen.
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