von Inka Grabowsky, 05.09.2022
Unterwegs in der alten Schuhfabrik
Kunstthurgau organisierte die diesjährige Werkschau in der verlassenen Sumag-Fabrik in Märwil. Die 26 Teilnehmenden schufen Arbeiten zum Thema «Unterwegs». (Lesezeit: ca. 3 Minuten)
«Die Künstlerinnen und Künstler werden sich gefragt haben: Soll ich die gegebene Aufgabe ‹Unterwegs› in etwa erfüllen, pro forma oder nonchalant», sagt Laudator Kurt Schmid mit einem Lächeln. So oder so müssten sich alle Werke in den Charme und den Groove der Industriehalle einfügen. Er biete einen Resonanzraum. «Die Künstler waren unterwegs und sind hier in einer Zeitkapsel angekommen.
Schuhe sind mittlerweile von Kleidungsstücken zu Objekten geworden.» (Betty Kuhn nutzte sie etwa für das Kinder-Hüpfspiel «Himmel und Hölle».) Die Hallen hätten 36 Jahre beinahe unverändert überdauert, so der Laudator weiter. «Weil sie 1986 nicht geräumt wurden, bieten sie heute ein gefundenes Fressen für Installationskünstler.» Walter Wetter widmet so mittels einer dadaistischen Sound-Installation ein verlassenes Büro dem fiktiven Sachbearbeiter Müller, der am Arbeitsplatz eine Nachricht hinterlässt: «Habe die Schnauze voll! Bin unterwegs, Komme nicht mehr zurück! Habe meinen Schuhe vergessen!»
Schmid bemüht in seiner Rede den Ausdruck der «Zeitenwende». Künstler seien Seismografen des aktuellen Geschehens. Geplant noch ohne den Ukraine-Krieg im Hintergrund, schwinge dennoch bei einigen Werken mit, dass man freiwillig oder gezwungen unterwegs sein könne. «Diese Kunst weist nicht voraus, sondern nach innen. Sie ist keine Avant-Garde und hat auch nicht postmoderne Beliebigkeit. Sie bezieht Positionen.»
Unterwegs zur Farbe
Bianca Frei-Baldegger hat grossformatige Gemälde beigesteuert, auf denen in vielen Schichten Ei-Tempera-Farben und flüssig aufgetragenes Wachs als Deckschicht eine intensive Leuchtkraft entwickeln. «Ich bin mein Leben lang unterwegs, neue Farben zu finden – das ist mein Lebensthema.» Die Pfynerin geniesst es, ihre Werke «Lebensfreude» und «Primavera» in den grossen Hallen zeigen zu können. «Es ist mir ein Bedürfnis, in grossem Format zu malen, auch wenn es körperlich herausfordernd ist. Die Leinwand liegt bei dieser Technik am Boden, und ich muss meine Pinsel an einen Besen binden, um das Zentrum zu erreichen.»
Unterwegs in der Zeit
Über die Grösse der alten Fabrik freut sich auch Martin Bührer. «Es scheint, als hätten die Fabrikarchitekten vor 74 Jahren schon genau meine Bildmasse gekannt», lacht er. Tatsächlich passt sein «Meridian 180» genau in die Nische des alten Lastenaufzugs. Der Zeigefinger der Figur scheint auf die Knöpfe ins Lager, in die Stanzerei oder in die Zwickerei drücken zu wollen – eine Fehlinterpretation. «Der 180 Grad Meridian, bei mir dargestellt durch den Spalt im Bild, markiert die Datumsgrenze in Stillen Ozean. Meine Figur fragt sich, ob sie ins Gestern oder ins Heute blicken will.» Bührer komponiert seine Werke sorgfältig am Computer und überträgt sie dann in das grosse Format: «Eine wochenlange Fleissarbeit», sagt er.
Mit vielen Erinnerungen verbunden
Claudia Höner-Bärlocher spricht für die Familie des Fabrikgründers, der das Gebäude 1948 bauen liess, 1956 erweiterte und zeitweise 120 Leute angestellt hatte. Sie habe selbst als Kind mit den Geschwistern zwischen Schuhschachtel-Beigen Versteckis gespielt und als junges Mädchen im Büro ausgeholfen: «Wir haben uns schwergetan loszulassen, deshalb gab es auch die Idee, ein Museum einzurichten mit all den alten Maschinen. Nun sind wir erst einmal froh, anlässlich der Ausstellung aufgeräumt zu haben. Es war super, dass Herr Bührer uns gefragt hat. Damit hatten wir ein Datum.»
Gearbeitet mit dem Gegebenen
Der Genius Loci schwingt in vielen der Werke mit. «Es stand alles noch voll von Maschinen und Arbeitsmaterial. Jetzt zu sehen, was daraus geworden ist, ist faszinierend», so die Fabrik-Mitbesitzerin. Christine Hochstrassser-Schoch zum Beispiel schuf mit ihrem Fabrikladen eine Hommage an den Betrieb und die Arbeitenden früher. Sie trug Dinge aus dem ganzen Haus zusammen, die einstmals einen gewissen Wert besassen, und die heute an Werte aus dem zwanzigsten Jahrhundert erinnern.
Ein Gebetsteppich von Elsbeth Harling besteht aus Schuhbändeln und Ösen. In den gestrickten Gauklerschuhen von Cornelia Schedler stecken Original-Leisten. Ursula Bollack-Wüthrich hat potenzielle Lebensgeschichte von Schuhträgern erfunden und die auf die Sohlen geschrieben. «Wohin wären diese Schuhe gegangen, wenn sie die Fabrik vor 36 Jahren verlassen hätten?», fragt sie. Die Betrachter dürfen mit spekulieren und eine Schuhsohle entsprechend beschriften. «Solche Sohlen haben wir zuvor schachtelweise entsorgt», sagt Claudia Höner-Bärlocher.
Zukunft ist ungewiss
Noch ist nicht klar, was später aus den Fabrikhallen wird. «Wir haben noch kein Projekt im Anschluss an die Ausstellung», so die Sprecherin der Familie. «So oder so müssen wir renovieren. Die Fenster sind nicht dicht.» Die Kunstausstellung verstünden die Erben als ersten Schritt. «Nun sind wir unterwegs in eine neue Ära, zu einem noch ungewissen Projekt.» Ideen gäbe es genug. «Hier liessen sich gute Ateliers einrichten – Kunstschaffende würden sich freuen», meint Laudator Kurt Schmid. Doch zunächst einmal ist in Märwil noch bis 18. September die «Unterwegs»-Ausstellung zu besichtigen.
Öffnungszeiten - jeweils an den Wochenenden
9./16. September, 17-20 Uhr
3./10./17. September, 14-18 Uhr
4./11./18. September, 11-16 Uhr
Von Inka Grabowsky
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