von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 04.08.2025
Von Glastonbury nach Kreuzlingen

Mary Middlefield ist der wahrscheinlich spannendste Act beim diesjährigen Kultling-Festival am 8. und 9. August. Aber auch das weitere Programm ist mit gutem Gespür für den Zeitgeist ausgewählt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Ein Radio so gross wie ein Tiny House, ein Röhren-Fernseher so hoch wie mindestens zwei Fussballtore übereinander, viel mehr retro kann eine Bühne fast nicht sein. Und doch findet genau hier am 8. und 9. August eines der musikalisch zeitgeistigsten Festivals des Thurgau statt – das Kultling-Festival. Gegründet 2014 aus einer Bierlaune heraus, bietet das ehrenamtlich organisierte Festival ambitioniertem Indie-Pop, Rock, Elektro und Hip Hop seit 2015 eine Bühne. Und das auch noch direkt am Bodenseeufer.
«Ja, die Location ist schon super», sagt Raphael Hugentobler, einer der Gründer des Festivals im Gespräch mit thurgaukultur.ch. Die Bühne sei oft auch ein gutes Argument bei den Bands. «Die wollen gerne hier spielen, weil es schon ganz cool ist», sagt Hugentobler. Das Festival profitiert dabei von einer Kooperation mit dem Kreuzlinger See-Burgtheater. Denn die haben die Bühne für ihr Sommertheater «Honig im Kopf» gebaut. Auch das war übrigens eine Idee bei der Gründung: das Bühnenbild des Theaters nach der letzten Aufführung für ein Festival zu nutzen.
Die Bühne: Herausforderung und Geschenk zugleich
Geniale Idee eigentlich, denn so hatte man in jedem Jahr immer eine spezielle Location. «Das hat uns auch immer vor Herausforderungen gestellt, weil Konzerte andere Anforderungen haben als Theater, trotzdem aber ist es natürlich ein Geschenk, dass wir das so nutzen können», sagt Mitgründer Hugentobler.
Möglich wurde diese Kooperation auch durch die kurzen Wege in einer kleinen Stadt wie Kreuzlingen. Valentin Huber, ein weiterer Initiator des Kultling-Festivals, ist der Sohn von Leopold Huber, dem langjährigen Intendanten des See-Burgtheaters. Da konnte man sich schnell auf eine gemeinsame Nutzung einigen. Für Kreuzlingen war das ein Glücksfall.
Denn: So entstand ein Festival, das von Anfang an dank der Bühne ein Alleinstellungsmerkmal hatte, und hinter dem Festival standen Menschen, die Bock hatten, etwas zu bewegen in ihrer kleinen Stadt. Das Festival sollte ein niedrigschwelliges Kulturangebot darstellen – Eintritt frei am ersten Abend, günstige Preise am Fantastical-Festival.
Ziel war es, ein Publikum anzusprechen, das alternative Musik schätzt – unabhängig vom Budget. Und: Der Fokus lag von Anfang an auf der Präsentation regionaler und nationaler Acts, der Förderung junger Musiker:innen sowie einem Mix verschiedener Genres – von Indierock über Folk bis zu Hip Hop und elektronischer Musik.
Wie das Programm beim Kultling entsteht
«Wir sind immer ein bisschen indiepop-lastig, aber wir sind offen für alle Stile», sagt Ramon Grunder, der sich selbst auch schon lange für das Festival engagiert und inzwischen für das Booking zuständig ist. Wollte man einen roten Faden im Programm suchen, dann sei es vor allem einer, sagt Grunder: «Es sind alles Künstler:innen, die offensichtlich interessant sind.» Dabei dürfe es auch mal nischig sein: Gegen den Mainstream zu programmieren gehört von Anfang an zur DNA des Kultling. Die Festivalmacher:innen sind darin nicht verbissen, sondern eher neugierig auf all die gute Musik da draussen, die unentdeckt bleibt, weil der Fokus zu oft nur auf den grossen Namen liegt.
Was ihnen hilft beim Programmieren des Festivals , ist, dass zumindest Ramon Grunder und Raphael Hugentobler selbst auch in Bands spielen. Sie kennen die Szene also ziemlich gut. «Dazu kommt: Ich höre wahnsinnig viel Musik», sagt Booker Grunder.
Ein Anspruch bei der Zusammenstellung des Festivals sei es auch, Musiker:innen zu präsentieren, die sich ihr kleines Festival in zwei Jahren vielleicht nicht mehr leisten kann. Mit anderen Worten: «Wir suchen oft nach Künstler:innen, die auf dem aufsteigenden Ast sind», erklärt Ramon Grunder. Weiterer Grundsatzpfeiler des Kultling: die Nachwuchsförderung der Ostschweizer Bandszene. Da hilft zum Beispiel die Kooperation mit dem Wettbewerb BandXOst: Jedes Jahr spielt der Vorjahresgewinner beim Kultling.
Eröffnen das Festival am Freitag: 2kmafia aus St.Gallen
Zum Start gibt’s fette Beats des BandXOst-Gewinners 2024
In diesem Jahr ist es die St. Galler Hip-Hop-Combo 2kmafia. Sie produzieren ihre Beats, Mixes und Videos selbst und gelten als ausgesprochen fantastische Liveband. Die Jungs eröffnen am Freitag, 8. August, um 20 Uhr das Kultling-Festival.
Auch das weitere Programm spiegelt die Philosophie der Festivalmacher. Dank der Kooperation mit dem Konstanzer Kulturladen gastieren die Lokalmatadoren Yasin und die Latenightband mit einer Mischung aus Rap, Soul und vor allem guter Laune. Vielleicht ist am Freitag ja auch das Wetter wieder so gut, dass sie ihren Hit «Sommer am See» in stimmiger Temperaturlage performen können. Hauptact am Freitag ist ab 22:45 Uhr die Saarbrücker Band Tiavo. «Mit Songs, die Falco und Rio Reiser zugleich stolz gemacht hätten, liefern Tiavo auf jeden Fall die perfekten Soundtracks zum Anderssein und einen Ausgeben», schreiben die Veranstalter dazu.
Headliner sind Tiavo und Mary Middlefield
Tatsächlich könnte das so ein Fall sein, dass man diese Band in zwei Jahren nur noch auf grösseren Bühnen sehen kann. Das Duo trat bereits bei bekannten Festivals wie Reeperbahnfestival, Metropolink und dem Open Ohr Festival auf.
Der Bayerische Rundfunk hatte die beiden Musiker eingeladen, ein Lied in seiner Newcomer-Reihe «Startrampe» zu performen. Könnte also sein, dass sie bald durch die Decke gehen. Muss aber nicht. Das Risiko gibt es bei jungen Bands auch immer. Egal wie es ausgeht, der Auftritt von Tiavo dürfte so oder so ein grosser Spass werden.
Und dann ist da natürlich noch die beinahe unglaublich klingende Geschichte von Mary Middlefield. Die deutsche Sängerin, die seit Jahren in Lausanne lebt, und eigentlich ausgebildete klassische Musikerin (Geige) ist, feiert seit Jahren erstaunliche Erfolge.
SRF verlieh ihr den Titel «SRF 3 Best Talent», 2023 spielte sie beim Montreux Jazz Festival, im vergangenen Jahr sogar auf dem legendären Glastonbury-Festival in England. Sie wurde von den britischen Festivalmacher:innen entdeckt und durfte dort auf der «BBC Introducing»-Bühne eine Show spielen.
Video: Mary Middlefield beim Glastonbury 2024
Wenn Rotzigkeit auf Verletzlichkeit trifft
Am Anfang der Karriere von Mary Middlefield stand, wie soll es anders sein, Liebeskummer. Sie war gerade verlassen worden und übertrug ihren Schmerz in Songs. «Thank You Alexander» heisst das Album dazu: In 12 Songs spricht die junge Songwriterin über Einsamkeit, Vergebung, Missbrauch, das Erwachsenwerden und viele andere Themen.
Spielte sie nicht längst auf den grossen Bühnen, würde man über sie wohl sagen, dass sie in zwei Jahren Kreuzlingen eher nicht mehr auf dem Tourneeplan haben dürfte. Ihre extrem lässige Indiepop-Rock-Attitüde passt perfekt in unsere Zeit, ihre Songs finden sehr oft die stimmige Balance zwischen Rotzigkeit und Verletzlichkeit.
Man soll mit solchen Vergleichen ja vorsichtig sein, aber in ihren besten Momenten erinnert Mary Middlefield an die grosse Florence Welch von der famosen Band Florence + the Machine. Allein dafür lohnt sich vermutlich ein Ticket fürs Kultling-Festival in diesem Jahr. Mary Middlefield spielt als Headliner am Samstag ab 22:45 Uhr in Kreuzlingen.
Ausgesprochen fein ausgewähltes Programm
Auch das weitere Programm am Samstag tönt vielversprechend: Die Winterthurer Singer-Songwriterin Kisanii eröffnet mit zarten Klängen, die zweiköpfige Alternative-Rock-Band Elio Ricca aus St. Gallen bringt Schlagzeug, Gitarre und Gesang auf die Bühne. «Wenn sie ein Film wären, wären sie wahrscheinlich ein abwechslungsreiches Low-Budget-Action-Drama, mit einigen Sex-Szenen und ohne Happy End», schreiben die Veranstalter über die Band.
Wer nach den Konzerten am Freitag und Samstag noch nicht genug hat: Elektronische Musik von Technora, Keta Tuneberg, playmob.il und Charles Lenner runden das Festival bis spät in die Nacht ab.
Video: So klingen Elio Ricca
Hier gibt's Tickets
Das Programm im Überblick gibt es hier. Eintritt ist am Freitag kostenfrei, für Samstag benötigt man für den Einlass ein Ticket für das zeitgleich laufende «Fantastical» in Kreuzlingen. Es kostet für Erwachsene 20 Franken und ist hier erhältlich.

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8280 Kreuzlingen
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