23.10.2024
Wie der Alltag museumsreif wurde
Seit zehn Jahren wird Geschichte im Thurgau neu geschrieben: Ein Webarchiv bündelt Erinnerungen von Menschen, die hier leben. Zum Jubiläum gibt es einen Thementag. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Das Projekt meineindustriegeschichte.ch ermöglicht Interessierten, in die Thurgauer Industriegeschichte einzutauchen. Die gesammelten Geschichten geben Einblick in unterschiedliche Lebens- und Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts. Am Sonntag, 27. Oktober, dem UNESCO Welttag des audiovisuellen Erbes, wird im Alten Zeughaus Frauenfeld das zehnjährige Bestehen des Webarchivs mit einem abwechslungsreichen Jubiläumsnachmittag gefeiert.
Der Thurgau gilt gemeinhin als Apfelkanton – doch die Arbeitsrealität in Mostindien sieht schon lange anders aus. Bereits unsere Urgrosseltern waren mehrheitlich keine Bauern mehr, sondern arbeiteten in der Textilindustrie, im Maschinenbau oder in der Nahrungsmittelverarbeitung. Bis in die 1970er-Jahre verdiente die Hälfte der Thurgauerinnen und Thurgauer ihren Lebensunterhalt in der Industrie.
Vor fünf Jahren haben wir einen ausführlichen Beitrag über das Projekt meineindustriegeschichte.ch veröffentlicht. Darin beschreiben wir, wie erzählte Geschichte konserviert wird.
«Die Geschichtsschreibung wurde lange dominiert von den Großkopfeten. Der Durchschnittsbürger blieb meist aussen vor. Ein Projekt des Historischen Museums Thurgau will das ändern.
Es gibt diese eine Episode aus seinem Leben, die Werner Herzog nicht so recht loslässt. Herzog ist heute 90 Jahre alt, hat fast sein halbes Leben in der Textilindustrie verbracht, stieg vom Schichtmeister zum Betriebsleiter auf bis zu diesem Moment im Jahr 1994, den er heute noch als „das elendeste Kapitel, welches mir passieren musste“ bezeichnet. Es war die Betriebsschliessung der Vigogne-Spinnerei Pfyn AG.
Wenn der rüstige Mann darüber redet, spürt man noch heute, wie es ihn bewegt: „Leute entlassen, wer in welcher Reihenfolge. ‚Sozial verträglich‘ sollte es heissen, seitdem kann ich dieses schreckliche Wort nicht mehr hören. Maschinen verschrotten musste ich auch: Grauenhaft“, erzählt er an einem Tag im Mai im Historischen Museum Thurgau.» Den ganzen Text findest du hier. Die Erinnerungen von Werner Herzog sind inzwischen zudem im Webarchiv aufgenommen. Sie finden sich hier.
Für das Historische Museum Thurgau ist es ein Weg, Geschichten zu sammeln und aufzubewahren, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Es zeigt, wie sehr Museen mittlerweile den Alltag entdecken, weil sie erkannt haben, dass das jahrelang vernachlässigt wurde und man nur auf die grossen und bekannten Figuren der Historie geschaut hat. „Wenn wir diese Geschichten jetzt nicht sammeln, sind sie irgendwann für immer verloren“, sagt die Historikerin Petra Hornung, die das Projekt leitet.
Digitaler Erinnerungsspeicher
Um die Erinnerungen dieser Menschen zu bewahren, lancierte das Historische Museum Thurgau 2014 das Oral-History-Projekt meineindustriegeschichte.ch. Die kurzen Filmausschnitte auf der Webseite lassen Erfolge, Hoffnungen und Ängste vergangener Zeiten lebendig werden. Zu Wort kommen verschiedene Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, darunter etwa eine italienische Kettlerin, ein langjähriger Lastwagenfahrer einer Färberei, eine Directrice einer Trikotfabrik oder der Produktgestalter der legendären SIGG-Flaschen.
So entstand über die Jahre ein vielschichtiges Kaleidoskop. Die Webseite wird laufend ergänzt. Im Jubiläumsjahr 2024 kamen neue Text- und Videobeiträge von Studierenden des Instituts für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hinzu.
Die Defizite mündlicher Geschichtsschreibung
Nun weiss man beim Historischen Museum Thurgau auch um die Defizite dieser mündlichen Geschichtsschreibung: „Die meisten Menschen erzählen lieber Erfolgsgeschichten, aber so war es ja nicht immer, es gab ja auch Schattenseiten“, sagt die Historikerin Petra Hornung. Als Museum müsse man sich bei der Benutzung dieser Quellen immer bewusst sein, dass dies oft sehr emotional, sehr subjektiv geprägte Geschichten seien.
Wertvoll sind sie trotzdem für Museen. Weil sie einerseits Momente der Vergangenheit konservieren, die sonst verloren wären. Und weil die Videos, in Ausstellungen zum Beispiel, ein ganz anderes Gefühl von Nähe zum Besucher entfalten können als es jeder Text vermochte. Die erzählte Geschichte eines echten Menschen schlägt da meistens jeden zusammenfassenden Erklärtext.
Start einer neuen Sammlungspolitik des Museums
Für das Museum hatte das Projekt bei seinem Start aber noch eine ganz andere Bedeutung. Es war so etwas wie ein Startpunkt für eine neue Sammlungspolitik: „Wie schaffen wir es, die verschiedenen Perspektiven der modernen pluralistischen Gesellschaft abzubilden? Ich bin überzeugt, dafür brauchen wir eine andere Sammlungspolitik als bislang, um die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts angemessen zu dokumentieren“, sagte Gabriele Keck, damalige Direktorin des Historischen Museums in einem Interview mit thurgaukultur.ch.
Im Sinne einer gerechteren Geschichtsschreibung reicht es eben nicht mehr aus, auf die bekannten Namen zu schielen. Der Alltag der Menschen war längst museumsreif geworden.
Das Jubiläumsprogramm am 27. Oktober
Der Jubiläumsanlass nun hält laut Medienmitteilung eine abwechslungsreiche Reise durch 200 Jahre Thurgauer Industriegeschichte bereit: Die Referate von Dr. Claudia Aufdermauer und Adrian Knoepfli widmen sich den Eigenheiten und Gefahren des industriellen Arbeitens im Kanton, zwei Musikerinnen entführen in die Klangwelten der Industrie. Auch der visionäre Unternehmer Julius Maggi hat einen Auftritt und nimmt das Publikum mit auf eine kulinarische Exkursion.
Das Jubiläum wird am Sonntag, 27. Oktober 2024, von 13 bis 17 Uhr im Alten Zeughaus in Frauenfeld gefeiert, begleitet von einem Apéro. Besucherinnen und Besucher können sowohl den ganzen Nachmittag verfolgen als auch nur einzelnen Beiträgen beiwohnen. Das detaillierte Programm sowie der Link zur Anmeldung finden sich auf der Webseite des Historischen Museums Thurgau.
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