von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 02.08.2019
Wie der Alltag ins Museum kommt
Die Geschichtsschreibung wurde lange dominiert von den Großkopfeten. Der Durchschnittsbürger blieb meist aussen vor. Ein Projekt des Historischen Museums Thurgau will das ändern.
Es gibt diese eine Episode aus seinem Leben, die Werner Herzog nicht so recht loslässt. Herzog ist heute 90 Jahre alt, hat fast sein halbes Leben in der Textilindustrie verbracht, stieg vom Schichtmeister zum Betriebsleiter auf bis zu diesem Moment im Jahr 1994, den er heute noch als „das elendeste Kapitel, welches mir passieren musste“ bezeichnet. Es war die Betriebsschliessung der Vigogne-Spinnerei Pfyn AG. Wenn der rüstige Mann darüber redet, spürt man noch heute, wie es ihn bewegt: „Leute entlassen, wer in welcher Reihenfolge. ‚Sozial verträglich‘ sollte es heissen, seitdem kann ich dieses schreckliche Wort nicht mehr hören. Maschinen verschrotten musste ich auch: Grauenhaft“, erzählt er an einem Tag im Mai im Historischen Museum Thurgau.
Werner Herzog ist zu Gast in der Reihe „Erzählcafé“ des Museums. Hier berichten regelmässig ganz normale Menschen aus ihrem Arbeitsalltag. Entstanden ist das Projekt bereits im Vorfeld der Ausstellung „Schreck & Schraube“. Ziel war es die bekannten Geschichten über Unternehmensgründer und den Geschäftsgang der einzelnen Firmen mit den Geschichten der Arbeiterinnen und Arbeiter zu ergänzen. Denn die waren bislang kaum bekannt - und das obwohl der Thurgau durch Firmen wie Greuterhof, Saurer, Isa Bodywear oder Stadler Rail immer auch schon ein industriell geprägter Kanton war. „Wenn wir diese Geschichten jetzt nicht sammeln, sind sie irgendwann für immer verloren“, sagt die Historikerin Petra Hornung. Sie leitet das Projekt und moderiert auch das Erzählcafé mit Werner Herzog.
„Wenn wir diese Geschichten jetzt nicht sammeln, sind sie irgendwann für immer verloren“
Petra Hornung, Historikerin
Rund eine Stunde wird er an jenem Tag reden. Über seinen Arbeitsalltag, über das Verhältnis zu den italienischen und später spanischen und portugiesischen Beschäftigten, auch von persönlichen Schicksalen berichtet er. Herzog erzählt von den sorgenden Patrons, die immer nur das Wohl der Arbeiter im Sinn gehabt hätten. Überhaupt habe die Textilindustrie einen zu schlechten Ruf gehabt: „Wohnhäuser, sogenannte Kosthäuser, ja ganze Dorfteile, Doppelhäuser haben die Textilfabrikanten bauen lassen und zu einem niedrigen Mietpreis an ihre Arbeitnehmer vermietet.“ Überall sei die Textilindustrie verschrien gewesen wegen der tiefen Löhne, „aber von den günstigen Mieten hat keiner gesprochen.“ Manchmal wirkt es so als durchlebte er das Erzählte im Kopf gerade nochmal neu. Wenn er über die große Lautstärke in den Fabriken berichtet, wandern seine Hände zu den Ohren und halten sie zu.
Keine Frage: Für den 90-Jährigen ist es etwas Besonders, dass er aus seinem Leben erzählen darf und, dass sich jemand für seine Geschichten interessiert. Einige Wochen nach dem Termin im Historischen Museum schreibt er in einem Brief an thurgaukultur.ch: „Es hat mir grossen Spass gemacht.“ Für diesen Beitrag hat er sich die Mühe gemacht, seine Aufzeichnungen für den Vortrag im Museum nochmal fein säuberlich mit der Hand in Schriftdeutsch zu übertragen.
Die Geschichten sollen auch der Museumsarbeit helfen
Für das Historische Museum Thurgau ist es ein Weg Geschichten zu sammeln und aufzubewahren, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Es zeigt, wie sehr Museen mittlerweile den Alltag entdecken, weil sie erkannt haben, dass das jahrelang vernachlässigt wurde und man nur auf die großen und bekannten Figuren der Historie geschaut hat. Aber was genau macht das Museum jetzt mit den Geschichten von Werner Herzog: „Ich werde ihn nochmals treffen und Videoaufnahmen machen. Grundsätzlich stellt das Museum mit diesen Filmaufnahmen im Sinne einer oral history eigene Quellen her: Die werden dann archiviert und stehen für künftige Ausstellungen und Vermittlung zu Verfügung“, erklärt Projektleiterin Petra Hornung.
Zu sehen sein werden Werner Herzogs Erinnerungen dann irgendwann auf der Website www.meineindustriegeschichte.ch Eine Seite, die das Historische Museum vor mehr als zwei Jahren gestartet hat. Dort finden sich bereits Videos anderer Zeitzeugen, die von ihrem Arbeitsalltag berichten. Es sind berührende wie spannende Erzählungen darunter. Zum Beispiel, wenn die gebürtige Italienerin Maria De Cicco von ihrem Leben zwischen zwei Welten erzählt und, dass sie sich so richtig Zuhause nirgendwo fühlt (siehe Video unten). Oder wenn Hanspeter Schneider, Modellier in der Schuhfabrik Löw (Oberaach) von Konflikten im Arbeitsalltag am Fliessband berichtet. Oder auch wenn Kurt Zimmerli, früherer Produktgestalter bei Sigg in Frauenfeld, erzählt wie es war als der Computer plötzlich Einzug hielt in die Büros und wie das die Arbeitswelt veränderte. Den Wert der Videos hat vor zwei Jahren auch die Schweizerische Nationalbibliothek erkannt: Sie nahm meineindustriegeschichte.ch in das bundesweite Sammlungsprojekt „Webarchiv Schweiz“ auf. In diesem Verzeichnis bündelt die Nationalbibliothek bedeutungsvolle Internetseiten und dokumentiert deren Wandel für die Nachwelt.
Video: Maria De Cicco, Kettlerin in der Strickwarenfabrik Wieler in Kreuzlingen von 1964 bis 1979, über Heimat
Warum oral history manchmal auch mit Vorsicht zu geniessen ist
Nun weiss man beim Historischen Museum Thurgau auch um die Defizite dieser mündlichen Geschichtsschreibung: „Die meisten Menschen erzählen lieber Erfolgsgeschichten, aber so war es ja nicht immer, es gab ja auch Schattenseiten“, sagt die Historikerin Petra Hornung. Als Museum müsse man sich bei der Benutzung dieser Quellen immer bewusst sein, dass dies oft sehr emotional, sehr subjektiv geprägte Geschichten seien. Wertvoll sind sie trotzdem für Museen. Weil sie einerseits Momente der Vergangenheit konservieren, die sonst verloren wären. Und weil die Videos, in Ausstellungen zum Beispiel, ein ganz anderes Gefühl von Nähe zum Besucher entfalten können als es jeder Text vermochte. Die erzählte Geschichte eines echten Menschen schlägt da meistens jeden zusammenfassenden Erklärtext.
Für das Museum hat das Projekt aber noch eine ganz andere Bedeutung. Es ist so etwas wie ein Startpunkt für eine neue Sammlungspolitik: „„Wie schaffen wir es, die verschiedenen Perspektiven der modernen pluralistischen Gesellschaft abzubilden? Ich bin überzeugt, dafür brauchen wir eine andere Sammlungspolitik als bislang, um die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts angemessen zu dokumentieren“, sagt Gabriele Keck, Direktorin des Historischen Museums. Im Sinne einer gerechteren Geschichtsschreibung reicht es nicht mehr aus, auf die bekannten Namen zu schielen. Der Alltag der Menschen ist längst museumsreif geworden.
Video: Hanspeter Schneider, Modelleur in der Schuhfabrik Löw in Oberaach von 1964 bis 1985, beschreibt Konflikte im Unternehmen
Der Auftrag lautet: Hemmschwellen senken!
Auch deshalb will das Historische Museum an dem Format des „Erzählcafés“ festhalten. Selbst wenn die Planung schwierig sei, „weil man nie genau weiss, wie viele Leute kommen“, sagt Petra Hornung. Die Hemmschwelle sei oft noch hoch, weil Menschen aus dem Arbeitermilieu oft auch das Gefühl hätten, gar nichts besonders zu erzählen zu haben. Diese Schwellen zu senken, wird eine der grossen Aufgaben für die Museen in der Zukunft sind.
Mitmachen: Wer selbst seine Industriegeschichte erzählen möchte, kann sich dafür über die Internetseite anmelden: https://www.meineindustriegeschichte.ch/participate Möglich ist es aber auch, sich direkt beim Historischen Museum per Telefon (058 345 73 80) oder E-Mail (historisches.museum@tg.ch) zu melden. Wer sich erstmal anschauen will, was in diesen Videos erzählt wird: Auf der Website gibt es viele weitere Zeitzeugen-Videos, man kann dort auch nach verschiedenen Schlagwörtern suchen.
Video: Robert Sallmann, Geschäftsführer der ISA Sallmann AG von 1947 bis 1990, erzählt, wie schwer es ihm gefallen ist, die jungen Näherinnen zu siezen
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