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von Judith Schuck, 05.11.2024

Annäherung an den Tod

Annäherung an den Tod
Szene aus Petra Cambrosios Workshop: Der Gesichtsausdruck gibt Gefühle oft unvermittelter wieder als Worte und Beschreibungen. | © Judith Schuck

Wie will ich mein Lebensende gestalten? Ein Forschungsprojekt der OST Fachhochschule Ostschweiz widmet sich dieser Fragestellung. Untersuchungsgegenstand sind unter anderem theaterpädagogischen Workshops mit Menschen im Alterszentrum Kreuzlingen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Ein lila Gummiball mit wabbeligen Fransen macht die Runde und ruft ganz unterschiedliche Reaktionen hervor: „Dä hät aber e komischi Farb“, findet eine Frau. Andere lachen, vor allem als die Theaterschaffende Petra Cambrosio noch weitere kleine Gummibälle in Gemüseform durchreicht, auf ihnen rumdrückt, dass sie Blasen bilden und diese seltsamen Formen mit pantomimischen Gesichtsausdrücken untermalt. Auf die mimische Übertreibung, den starken Gefühlsausdruck, lassen sich die Teilnehmenden am Workshop ein. Sie ahmen nach oder reagieren mit Kommentaren, Lachen oder Abneigung.

Die Workshop-Teilnehmer:innen von Petra Cambrosio sind Bewohner:innen des Alterszentrums Kreuzlingen, die an einer Form von Demenz erkrankt sind. Demenz wird als Verlust der geistigen Fähigkeiten beschrieben. Medizinethiker und Demenzexperte Giovanni Maio zeigt sich mit dieser Begriffsbestimmung nicht einverstanden, wie er Anfang 2024 auf einer Fachtagung zu Demenz in Ittingen erläuterte: „Damit insuieren wir, dass etwas verloren gegangen ist. Dabei ist nichts verloren, sondern zugeschüttet.“ Das Zugeschüttete versucht die Theaterpädagogin hervorzuholen, indem sie die Workshop-Teilnehmer:innen zu aktivieren versucht.

Herausforderung, genügsam zu sein

Jeden Montagnachmittag versammeln sie sich im Stuhlkreis im Obergeschoss des Alterszentrums. Alle warten ruhig, bis es losgeht, manche machen noch ein kleines Schläfchen. „Zu Beginn hole ich immer den Fallschirm raus“, erklärt Cambrosio. Sie verwendet mehr oder weniger immer dieselben Utensilien. „Das ist für mich herausfordernd. Genügsam zu bleiben. Ich lerne hier, dass es nicht immer ein neuer Input sei muss.“

Denn obwohl die Mittel mehr oder weniger gleich bleiben, verlaufe jeder Nachmittag völlig anders. Beim Fallschirm halten alle im Kreis ein Ende und machen zunächst Wellenbewegungen. Dann kommen nach und nach Bälle mit ins Spiel. Mit den verschiedenen Angeboten wie Bälle, Seile oder Ballon versucht Petra Cambrosio eine Kontaktaufnahme, und es ist eindrücklich zu beobachten, wie jeder in der Gruppe unterschiedlich auf Aktionen reagiert.

 

Petra Cambrosio startet immer mit Fallschirm als wiederkehrendes Ritual. Bild: Judith Schuck

„In diesem Projekt greifen wir ein gesellschaftliches Bedürfnis auf  – den gemeinsamen Diskurs über die Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen in Bezug auf das Lebensende zu eröffnen und zu fördern.“

Andrea Koblender, Professorin & Studienleiterin

„Ich schaue immer: was ist möglich, wer hat welche Ressource“, sagt sie. Eine Teilnehmerin schläft die meiste Zeit zufrieden in ihrem Stuhl. Petra Cambrosio legt einige bunte Tülltücher über ein  Seil: Eine Wäscheleine. Hiermit packt sie die Teilnehmerin, die lächelnd das Seil hält oder die Tücher faltet – Handlungen, die ihr scheinbar liegen, die sie gerne macht, vertraut sind.

Es kann auch mal zu Streitigkeiten kommen, dann muss die Theaterpädagogin oder die Pflegerinnen schlichten. Die Reaktionen kommen ungefiltert, ungehemmt, ähnlich wie bei Kindern. Diese Direktheit hat etwas Erfrischendes, Inspirierendes.

Sprache rückt in den Hintergrund

Ein Mann mit süditalienische Wurzeln spricht auch nur in seinem Dialekt und teils auch mit eigenen Wortkreationen, mit völliger Selbstverständlichkeit, als könnten ihn alle verstehen. Sprache spielt in der Runde eine untergeordnete Rolle. Es wird mit Gesten, Gesichtsausdrücken, Tasten und Berührungen oder Geräuschen gearbeitet, vorsprachlich, archaisch, allgemeingültig. „In den Augen der Menschen blitzen Erinnerungen auf und lassen sie kurz strahlen, Bewegungen oder Handlungen tätigen, welche vorher scheinbar verschwunden schienen“, sagt Cambrosio.

„Die Menschen können so aus ihrer Erinnerung schöpfen und verschiedenste Gefühle erleben und auch viel lachen.“

Petra Cambrosio, Theaterpädagogin

In einem zweiten Workshop, welcher von allen Heimbewohnenden besucht werden kann, probiert sie aus, die kognitiv noch stärkeren Teilnehmenden mit Hilfe von Bildern, Materialien, Klängen, Liedern und Wortassoziation auf „theatrale Reisen“ mitzunehmen. „Die Menschen können so aus ihrer Erinnerung schöpfen und verschiedenste Gefühle erleben und auch viel lachen.“

Die Idee für den theaterpädagogischen Workshop auf der Demenzstation des Alterszentrums Kreuzlingen hatte Angela Schnelli mit ihrem Team. Erstmals durchgeführt wurde er 2021. Petra Cambrosio leitet diesen seit Mai 2024. Den zweiten Workshop rief sie neu ins Leben, was von Angeli Schnelli sehr unterstützt worden sei.

 

Pflegerinnen nehmen am Workshop teil und helfen, die Ressourcen hervorzulocken. Bild: Judith Schuck

Studie untersucht die Bedürfnisse alter Menschen

Schnelli ist Pflegefachfrau und heute im Projekt-Team von Orpheus, einer multimethodisch angelegten qualitativen Studie von der OST Fachhochschule Ostschweiz mit dem Titel: „Gedanken zum Lebensende von älteren Menschen im Kanton Thurgau“.

„In diesem Projekt greifen wir ein gesellschaftliches Bedürfnis auf  – den gemeinsamen Diskurs über die Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen in Bezug auf das Lebensende zu eröffnen und zu fördern“, schreibt Prof. Andrea Koblender, die Studienleiterin. Eine alternde Gesellschaft geht mit einer hohen Zahl an multimorbiden Menschen einher.

„Es gibt viele Tabuthemen. Viele haben in ihrem Leben auch schwierige Erfahrungen mit Sterben gemacht.“

Angela Schnelli, Pflegefachfrau

Man spricht von Multimorbidität, wenn bei einer Person mindestens zwei Erkrankungen gleichzeitig auftreten. Die meisten Menschen über 65 sind von Multimorbidität betroffen. Dabei können die Erkrankungen aus jedem Bereich der Medizin sein. Die häufigsten Erkrankungen bei Multimorbidität betreffen das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel, die Knochen und die Muskulatur sowie die Psyche.

Viele der Betroffenen würden zu Empfänger:innen von Palliative Care, also einer Pflege, die nicht den Anspruch hat zu heilen, sondern das Leben oder vielmehr das Lebensende so gestalten soll, dass es würdevoll und den Wünschen der zu pflegenden Person gerecht wird. Das Projekt Orpheus soll die Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und Lebensende in die Gesellschaft holen.

 

Seil und Tülltuch können genügen, um Erfahrungswelten zu eröffnen. Bild: Judith Schuck

Weniger Angst vor dem Tod als dem Sterben

„Gerade ältere Menschen sprechen nicht gerne über den Tod und das Sterben“, stellt Angela Schnelli fest. Die Generation, die jetzt alt sei, habe keine Gesprächskultur erlernt. „Es gibt viele Tabuthemen. Viele haben in ihrem Leben auch schwierige Erfahrungen mit Sterben gemacht“, so Schnelli. Auch in den Familien werde wenig darüber gesprochen. Dabei, das zeigen die ersten Erkenntnisse der im August 2024 gestarteten Studie, hätten die meisten alten Menschen viel weniger Angst vor dem Tod, denn vor dem Sterben, sagt Schnelli.

In der Palliative Care soll das Thema enttabuisiert werden, „auch, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfassen und Gestaltungsmöglichkeiten für das Lebensende zu finden“, erklärt Angela Schnelli. Die Projekt-Idee zu Orpheus entstand aus den theaterpädagogischen Workshops im Alterszentrum Kreuzlingen.

„Wir wollten schon lange etwas mit diesen Workshops machen, denn darin liegt so viel Potenzial, sie sind extrem wertvoll“, sagt Angela Schnelli. Neben Dokumentationen zu den Workshops zählen die wissenschaftliche Begleitung von Erzählcafés, Familieninterviews und Improvisationstheater zur Methodik von Orpheus.

 

Anfassen, fühlen, erfassen: «So ein verzotteltes Ding, nein Danke» ist die Reaktion eines Teilnehmers auf das Seilende. Bild: Judith Schuck

Theater nimmt Geschichten aus dem Publikum auf

Von der Improvisationstheatergruppe „Öpfel mit Stil“ wird im Eisenwerk Frauenfeld am 10. November das Playbacktheater „LebENDig“ aufgeführt. Regie führt ebenfalls Petra Cambrosio, die die Gruppe seit vielen Jahren leitet. Das Publikum kann eigene Geschichten rund um Sterben und Lebensende einbringen, welche das Ensemble dann aufnimmt, um sie mit den Mitteln des Schauspiels weiterzugestalten. Die gemeinsame Auseinandersetzung und das Teilen der Geschichten sollen das Thema Sterben zugänglicher machen.

Sowohl die Workshops, die Erkenntnisse aus dem Playbacktheater sowie den Erzählcafés werden von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen für Orpheus erfasst und fliessen in die Studie ein.

 

 Das haptische Erfühlen ist wichtiges Element beim Workshop. Bild: Judith Schuck

 

Ein ähnliches Projekt verfolgte die Kreuzlinger Performerin Micha Stuhlmann 2021 mit Tod.Sein und dem gleichnamigen, aus der Arbeit mit ihrem Ensemble entstandenen Film. Der Film und die Beschäftigung mit Tod und Sterben sollten ebenfalls dazu auffordern, sich weniger angstvoll mit dem eigenen Tod zu befassen, allerdings generationenübergreifend, weniger mit Blick auf die alternde Gesellschaft. Auch wenn Orpheus einen mehr wissenschaftlicheren, Tod.Sein einen eher künstlerischen, empirischen Ansatz verfolgt, gibt es Überschneidungen. Zumindest scheint das Thema eine gesellschaftliche Dringlichkeit bekommen zu haben, das Interesse daran wächst.

Die Studienergebnisse zu Orpheus sollen Ende 2025 ausgewertet werden. „Wie das Produkt dann aussehen wird, wissen wir heute noch nicht“, sagt Angela Schnelli. Es soll auf jeden Fall mehr sein, als ein Forschungsbericht. Es soll Sensibilierungsarbeit in der Öffentlichkeit leisten.

Improvisationstheater im Eisenwerk

Öpfel mit Stil: LebENDig

Playbacktheater rund ums Thema Lebensende

10. November, 16 bis 18 Uhr

Spielleitung: Petra Cambrosio
Musik: Dani Wirth 
Eintritt frei. 
Reservation erwünscht per Mail an ipw@ost.ch

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