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Am Beginn eines neuen Zeitalters

Am Beginn eines neuen Zeitalters
Furios Anklage und wütende Abrechnung: Der Film "Un film, réclamé" ist ab 25. Januar im Kunstraum Kreuzlingen zu sehen. | © Screenshot

Das Schlagwort Anthropozän macht gerade die Runde. Es bezeichnet jene Epoche, in der der Mensch zum einflussreichsten Faktor auf der Welt wurde. Zwei Ausstellungen im Kunstraum Kreuzlingen nähern sich dem Thema jetzt an.

Am Anfang war diese eine Idee: Die Erwandernung der Schweiz mit den eigenen Füssen. Und so lief der belgische Künstler Pierre-Philippe Hofmann vier Jahre lang, zu verschiedenen Jahreszeiten quer durchs Land. Nicht irgendwie, sondern von zehn verschiedenen Randpunkten an den Aussengrenzen des Landes, machte er sich auf den Weg zum geografischen Mittelpunkt der Schweiz, der Älggialp im Kanton Obwalden. Eine Hoffnung hinter dem Projekt war auch: Wenn man sich schon aus so vielen Richtungen dem Herzen der Schweiz nähert, dann würde man doch ganz sicher auch etwas über das Innerste des Landes erfahren.

Weil die Wanderung allein für ein Kunstprojekt nicht reicht, stoppte Hofmann nach jedem Wegkilometer und filmte eine Minute lang, das, was direkt vor ihm lag: Bauern auf ihren Höfen, Kinder beim Schlittenfahren, grasende Kühe, wartende Menschen an der Bushaltestelle, Landschaften, Stadtansichten und vieles mehr. 2700 einminütige Videos sind so entstanden. Zu sehen ist Pierre-Philippe Hofmanns „Portrait of a Landscape“ ab 25. Januar im Kunstraum Kreuzlingen. 

Den Wandersmann hat der Künstler noch nicht ganz abgelegt, bei der Medienkonferenz zur Ausstellung trägt er Wanderschuhe. Ihm sei es bei dem Projekt um mehrere Dinge gegangen, erzählt der Belgier mit Schweizer Wurzeln: Raum und Zeit einander näher bringen, für sich selbst die Entdeckung der vielen Facetten des Landes und auch ein Kampf gegen die Stereotypen des Landes: „Den üblichen Klischees wollte ich etwas entgegen setzen“, sagt der Künstler. Tatsächlich zeigt er neben malerischen Berglandschaften auch den schlichten Alltag. Das sonst Unbeachtete sollte aus dem Schatten der Bilderbuch-Schweiz treten. 

Ein Algorithmus hat die Bildauswahl getroffen

Aber das ist nicht alles. Hofmanns Arbeit hat eine tiefere Ebene. Weil das Medium auch immer die Botschaft ist, liegt sie in der Präsentationsweise der Videos. 72 Monitore sind am Boden installiert, man kann an ihnen vorbeiflanieren und dem Blick des Wanderers folgen. 38 Sequenzen werden auf jedem Bildschirm gezeigt und sie wechseln in Dauerschleife durch: Von Winter zu Sommer, von Landschaft zu Porträt, von Stadt zu Land und von Schwarz-Weiss-Aufnahmen zu Farbe. Zusammengeschnitten hat sie allerdings nicht der Künstler, sondern ein von ihm programmierter Algorhitmus. Aus zwei Gründen, wie Hofmann erklärt: Zum einen wollte er die Auswahl der Bilder rationalisieren, entemotionalisieren und von sich als Künstler abkoppeln. Zum anderen neige er aber auch zu Komplexität, sagt Hofmann. Der Linearität des Wanderns habe er ein komplexes System entgegen stellen wollen, weil das auch seiner eigenen Denkweise am ehesten entspräche. 

So lässt sich Hofmanns Arbeit auf mehreren Ebenen betrachten: Als reines Suchspiel von bekannten und unbekannten Orten der Schweiz. Als blickpunktartige Dokumentation von dem, wie Leben in der Schweiz heute aussieht. Oder als komplexes Spiel von gegenläufigen Denkmodellen. Ihn selbst habe an der Arbeit am meisten überrascht, wie sehr in der Schweiz, auch in den entlegensten Dörfern, die Landschaft vom Menschen organisiert ist: „Jede Landschaft ist unter Kontrolle, Wildwuchs gibt es nirgendwo“, sagt Pierre-Philippe Hofmann.

„Un film, réclamé“ ist eine furiose Anklage des Menschen

Genau das ist die Brücke zu dem Film, der gleichzeitig im Tiefparterre gezeigt wird. Er heisst „Un film, réclamé“ und stammt von Ana Vaz und Tristan Bera. In ihm geht es genau um das, was auch Hofmann in seiner Arbeit beobachtet hatte - die Kontrolle des Menschen über die Natur und seine Umgebung. Unter dem Stichwort Anthropozän wird das gerade sehr intensiv diskutiert. Der Begriff meint die Beschreibung jenes Zeitalters, in dem der Mensch zum bestimmenden Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Mit anderen Worten: Wir haben uns alles auf diesem Planeten unterworfen, jetzt sind wir dabei, alles zu ruinieren. 

Der Film von Vaz und Bera ist eine 20-minütige furiose Anklage, eine wütende Abrechnung mit dem, was der Mensch in den vergangenen Jahren angerichtet hat. Der Film beginnt mit messerscharfen Sätzen und wächst sich dann zu einer überwältigenden, schnell geschnittenen Bilderflut aus, die einen nicht kalt lässt. Collagiert aus Bildern und Tönen berühmter Filme, kontrastiert mit mal blutigen, mal poetischen Bildern, die den Einfluss des Menschen offensichtlich machen. Irgendwann möchte man fast gar nicht mehr hinsehen, kann sich aber gleichzeitig der Magie der Bilder und der Worte auch nicht entziehen. Gleich dem Anblick eines Autounfalls kann man seinen Blick kaum lösen. 

Der schmale Grat zwischen Aktivismus und Kunst 

Der Film ist lauter Protest, ein Schrei gegen unseren Umgang mit der Erde. In seinen guten Momenten haut er einen aus dem Sessel, in seinen schlechten Momenten wirkt er wie ein Weltuntergangs-PR-Video von Greenpeace. Ana Vaz und Tristan Bera wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Aktivismus. Gerade im Kontrast zu Pierre-Philippe Hofmanns ruhigen, dokumentarischen und bewusst rationalen „Portrait of a Landscape“, entfaltet der Film eine aussergewöhnliche Wucht. 

Und so ist es wie so oft im Kunstraum Kreuzlingen: Der eigentliche Star ist die Kombination der Arbeiten. Beide Ausstellungen können zum Gesamtkunstwerk im Kopf der Besucher werden. Zu einem Kunstwerk, das den Wettstreit von Ideen zum Thema hat: Kopfkunst vs. Bauchkunst. Ratio vs. Emotion. Abbildung vs. Aktivismus. Plakativität vs. Komplexität. Wer am Ende gewinnt, entscheidet jeder Besucher für sich. Viel besser kann man Ausstellungen kaum machen. 

Termin: Eröffnung der beiden Ausstellungen ist am Freitag, 25. Januar, 19.30 Uhr, im Kunstraum Kreuzlingen & Tiefparterre. Beide Ausstellungen sind bis Ende März zu sehen. Die Öffnungszeiten: Fr 15 – 20 Uhr, Sa / So 13 – 17 Uhr.

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