von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 10.12.2024
Die Welt hinter dem Vorhang
Im Kunstraum Kreuzlingen gibt es gerade Seltenes zu bestaunen: Die Verschmelzung verschiedener Kunstformen zu einem grossen Ereignis. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Es gibt ein Davor und ein Dahinter. Das ist der erste Gedanke, der einem in den Kopf kommt, wenn man beide Seiten gesehen hat. Getrennt sind sie durch einen alarmroten Vorhang aus Kunststoff.
Wer davor steht, sieht einen in satte Rottöne getauchten Ausstellungsraum mit skurrilen Skulpturen, die an Weltraummissionen erinnern und leuchtend gelben Lichtstreifen an der Decke, die das Gefühl hier irgendwo out of space in einem Raumschiff zu sein, verstärken. Steht man hinter diesem filtergleichen Vorhang, sieht die Welt ganz anders aus. Man kann das als Anspielung auf die Filter der Social-Media- und Internetwelt verstehen, muss man aber nicht.
In dieser Welt auf der anderen Seite des Vorhangs stehen immer noch die skurrilen Skulpturen mit ihren wulstigen Verformungen in XXL-Form, aber jetzt betrachtet man nicht mehr von aussen, man ist mitten in der Raumkapsel. Innen ist alles klar, die Aussenwelt verschwimmt im Rotfilm. Dieser erste Eindruck ist ein ziemlich kluger Einstieg für die neue Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen.
Archaisch, ausufernd, grotesk
Der Titel dieses Ausstellungsteils heisst „Kosmos“. Und das ist durchaus programmatisch zu verstehen: Denn das, was Martin Spühler, Martin Andereggen und Noëlle Anne Darbellay hier unter der Kuration von Reto Müller inszenieren hat durchaus etwas von einer anderen Welt: der Versuch der Verschmelzung verschiedener Kunstformen zu einem lebendigen und eigenen Wesen.
Der Anspruch ist nicht gering. Kann das gelingen? Die Skulpturen von Martin Spühler bieten dafür jedenfalls eine gute Basis. 2023 ist der Künstler verstorben, die Werke, die nun zu sehen sind, stammen aus seinem Nachlass. Spühler war Zeit seines Lebens auf der Suche nach Klang. Weil ihn herkömmliche Instrumente bei dieser Suche nur bedingt halfen, baute er sich eigene Instrumente.
Einige davon sieht man nun im Kunstraum. Spühler verstand sich als Klangbildhauer. Aber die Arbeiten haben auch eine Kraft, die man ohne Klang bestaunen kann. Sie sind archaisch, ausufernd, manchmal auch beinahe grotesk und in einigen Details hingegen wieder filigran.
Video: Dokufilm über Martin Spühler
Die Verbindung von Musik und Kunst
Die Klangskulpturen irritieren schon rein optisch. Die Verblüffung steigert sich, wenn man sie klingen hört. „Sie haben unglaubliche Resonanzräume in sich, das bringt Töne und Klänge hervor, die man so noch nie gehört hat“, schwärmt Noëlle Anne Darbellay von den Arbeiten. Sie ist Musikerin, Expertin für zeitgenössische Musik um genauer zu sein.
Für die Ausstellung hat sie ein eigenes Klangprogramm erdacht, das die Skulpturen von Martin Spühler zum Leben erwecken soll. Es trägt den schönen Titel „Les concertes de Noëlle“ und verbindet Werke zeitgenössischer Musik mit neuen, eigens für die Skulpturen von Spühler konzipierten musikalischen Kreationen, szenischen Performances, Improvisation und Literatur.
Samstag, 14. Dezember: Les Concerts de Noëlle Nº2
18 bis 20 Uhr.
Mit Peter Conradin Zumthor, Max Murray, Matthias Klenota und Noëlle-Anne Darbellay.
Anschliessend Barabend.
Samstag, 21. Dezember: Les Concerts de Noëlle Nº3
17 bis 18 Uhr:
Spaziergang mit Martin Andereggen durch die Ausstellung
18 bis 20 Uhr Konzert
mit Ariane Koch, Noëlle-Anne Darbellay, Justin Auer, Matthias Müller, René Camacaro und Juan Braceras, Viola.
Anschliessend Kunstraum Gala.
Die Autorin Ariane Koch wird mit neuen Texten auf Schuberts «Lieder ohne Worte» reagieren. Sie spürt schreibend den angeklungenen Atmosphären nach; dem Abend, der Nacht, den Gewässern, und interessiert sich dabei für deren (ursprüngliche) Literalität.
Details zu allen Konzerten gibt es auf der Internetseite des Kunstraum Kreuzlingen
Noëlle Anne Darbellay wird in allen drei Konzertprogrammen selbst auftreten, sie hat sich aber auch ein international renommierte Künstlerkolleg:innen eingeladen. Unter anderem die Komponistin und Sängerin Réka Cziszér, eine der wohl bemerkenswertesten Töneschöpferinnen der Zeitgenössischen Schweizer Musikszene.
Während es also im Erdgeschoss des Kunstraums sphärisch und kosmisch zugeht, kann man im Tiefparterre in die Psyche des Menschen hinab steigen. Martin Andereggen (von ihm stammt auch der rote Vorhang im Erdgeschoss) zeigt unter dem Titel „Self storage“ hier seine erste institutionelle Einzelausstellung.
Die Kathedrale im Tiefparterre
Wer das Tiefparterre des Kunstraums bisher als düsteren Raum kannte, wird sich nun wundern. Andereggen leuchtet den Keller mit Tageslichtlampen aus. Bis in die schäbigsten Ecken hinein. Der Raum bekommt sofort eine ganz andere Wirkung. Die seitlich einstrahlenden Lichter geben ihm etwas Sakrales, beinahe Kathedralenhaftes.
Würde ein Messdiener mit einem schwingenden Weihrauchbecher vorbeikommen, man würde sich nicht wundern. Dazu passend, hängen frei von der Decke Arbeiten, die wie Modellvarianten von Kirchenschiffen aussehen. Betrachtet man sie näher, erkennt man, dass sie aus alten Uhrenkästen zusammen gebaut wurden.
Verziertes, filigran bearbeitetes Holz, Adler, Palmenverzierungen, es fällt nicht schwer hier Insignien einer noch unbestimmten Macht zu erkennen. Von aussen sehr prachtvoll, aber je näher man die Modelle betrachtet, umso deutlicher wird, dass sie innen ziemlich leer und ausgehöhlt sind. Eigentlich ist da keine Macht mehr, die Hülle behauptet etwas, was das Innenleben nicht deckt.
Gefangen in der Ausweglosigkeit
Interessant auch: Je mehr man seinen Blick in das Innere taucht, desto mehr wird man hereingezogen in diese Leere. Die Modelle selbst werden zur Kathedrale. Die Glasscheiben werden zu Kirchenfenstern und je näher man an diese Scheiben heran rückt, umso näher rückt das Innenleben an einen heran. Bis man plötzlich gedanklich selbst als kleine Modellfigur in dieser kühlen und auch etwas gespenstischen Umgebung steht.
Die Verzweiflung angesichts der seltsamen Situation in diesem merkwürdigen Raum wird spürbar. Es hat etwas Auswegloses. Eingeschlossen in einem Reliquienschrein. Man kann Kirchenkritik hinein interpretieren. Aber es könnte auch weltlicher sein: Ein bisschen so wie bei Franz Kafka dessen Figuren sich im Gestrüpp von Bürokratie, Recht und Politik verlieren. Die Assoziationen stürmen jedenfalls auf einen ein, wenn man sich auf die Werke einlässt.
Der Künstler selbst sagt, ihm seit der Zeitaspekt hier noch wichtig. „Diese Uhrenkästen sind ja an sich Zeitobjekte, die die Zeit messen. Sie sind sind nun ihrerseits aus der Zeit gefallen, weil sie nicht mehr modern sind. Das finde ich spannend“, sagt Martin Andereggen bei einem Rundgang durch seine Ausstellung.
Referenzen zur Popkultur drängen sich auf
Tatsächlich bietet dieser Zeitaspekt eine Reihe an Anknüpfungspunkten an popkulturelle Phänomene. In TV-Serien wie „Dark“ oder „1899“ werden beispielsweise Zeit- und Paralleluniversumsreisemaschinen in eine scheinbar antiquierte Hülle gefasst. Nur mit Hilfe dieses ineinander greifenden Uhrwerks können die Figuren der Serie die verschiedenen Wurmlöcher des Universums ansteuern. Und das ist ja wirklich ein interessanter Gedanke: Dass man so etwas stets für Zukunftsmusik gehaltenes wie Zeitreisen nur mit Instrumenten ermöglicht, die Techniken einer längst vergangenen Zeit spiegeln. Ist die Zukunft am Ende doch nur eine andere Form von Vergangenheit?
Gute Kunst verführt die Betrachter:innen zu solchen Gedankenfeuerwerken. Insofern lässt sich Martin Andereggens Debütausstellung schon alleine deshalb als herausragend bezeichnen. Er schafft eine Welt, in der man sich problemlos verlieren kann.
In gewisser Weise knüpft Andereggen hier auch eine Verbindung zum Werk von Martin Spühler. Auch der hatte seine Instrumente teilweise aus Fundsachen konstruiert. Für den Kurator Reto Müller ist das auch eine Anspielung der gerade viel diskutierten zirkulären Kreislaufwirtschaft, in der alles wieder verwendet wird und nichts für den Müll produziert wird.
Fortschritt, Vergänglichkeit, Künstlichkeit
Martin Andereggen zeigt im Tiefparterre noch weitere Arbeiten neben den Uhrkästen-Kathedralen. Eine blaue Maske, die ein menschliches Gesicht zeigt, das mit Schläuchen verbunden ist, Skeletthände, die in den Raum greifen, ein Handschuh, der im Raum zu schweben scheint. Hier versucht der Künstler nochmal einen anderen Kosmos aufzumachen: Medizinischer Fortschritt, Vergänglichkeit, die breite Pforte zwischen Lebendigkeit und Künstlichkeit.
Wichtige Themen, schon klar. Allein: Gegen die üppige Gedankenwelt der Uhrenkästen kommen sie nicht an. Wer sich zuvor in den Kathedralen der Macht(losigkeit) verloren hatte, der wird nun schwer zu diesen irdischen Themen zurückfinden.
Trotzdem ist das Experiment dieser Ausstellungs-Dreifaltigkeit am Ende gelungen. Der rote Vorhang, die wuchtigen Skulpturen, die Klänge und die Erkundung der Psyche im Tiefparterre - das fügt sich alles auf sehr erstaunliche Weise zusammen.
Tiss’ Erbe neu und weiter gedacht
Richard Tisserand, der verstorbene Gründer und langjähriges Mastermind des Kunstraum Kreuzlingen, wollte immer, dass dieser Ort mehr ist als ein reiner Ausstellungssaal. Ihm schwebte stets ein interdisziplinär wirkendes Wesen vor, das Kunst, Musik, Literatur, Theater und Film verbindet.
Pulsieren sollte der Kunstraum, sprühen vor Ideen und der Lust an Neuentdeckungen. Immer anschlussfähig an sämtliche Kunstformen. Dass Reto Müller als neuer Kurator auf dem Weg ist, diese Vision mit Leben zu füllen, ist vielleicht die beste Nachricht für den Kunst-Standort Kreuzlingen seit langer Zeit.
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