von Zsuzsanna Gahse, 17.10.2023
Romane in den Gedichten
Jochen Kelter hat mit „Verwehtes Jahrhundert“ einen neuen Lyrikband vorgelegt. Er überzeugt mit einem stimmigen Sound. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Einen stimmigeren Titel als „Verwehtes Jahrhundert“ wird es für Jochen Kelters neue Gedichte kaum geben können. In den bündig vorgetragenen Zeilen werden mindestens hundert Jahre sichtbar, die Zeiten wehen herbei. Manchmal blitzen sogar weit entfernte Vergangenheiten auf.
Daneben zeigt sich unerwartet die jüngste Gegenwart, zum Beispiel mit der Pandemie, die jedem noch in den Knochen sitzt, was derzeit mit einer neuen Emsigkeit gerne überspielt wird. Kelter hingegen beleuchtet die irritierende Ruhe und Stille dieser Jahre, die stockende, beinahe stehengebliebene Zeit.
Die Gedichte über die Vergangenheiten treten meist als Zeitraffer auf, nach der Lektüre breiten sie sich aber im Kopf des Lesers aus, und dann sind sie Chroniken, Romane, Berichte über einzelne Schicksale oder historische Zeugnisse.
Köln, Bodensee, Paris
Anders gesagt vermag Kelter die Verwehungen zwischen den Zeiten mal zu beschleunigen, mal zu verlangsamen, und durch die unterschiedlichen Tempi rhythmisiert er die Komposition des Gedichtbandes.
Das Jahrhundert bezieht sich allerdings nicht etwa nur auf die Zeitebenen, sondern auch auf Orte. So taucht im Hintergrund Köln wiederholt auf, Jochen Kelters Geburtsstadt. Nun lebt er lang schon am Bodensee, und diese Gegend hat er im Laufe der Zeit immer neu und nachvollziehbar beschrieben, und die Bilder vom See haben auch in der neuen Gedichtsammlung einen eigenen Charakter.
Hinzu kommen weitere Landschaften und Städte, unter anderem Paris oder die Normandie, Südtirol oder ein Stück Spanien. Belebte Orte, selbst wenn dem Erzählenden „nur falbe halbe Erinnerungen“ an manche Personen geblieben sind.
Wortfindungen & Jugendsprache
Schön sind die falben, halben Erinnerungen auch vom Sound her.
Zwischendurch kehrt Kelter den Weltwanderungen den Rücken humorig zu und zieht sich zurück: „Nicht in Kabul nicht in Beirut / ich bin auch nicht in Mogadiscio / ich sitze in der Alpenrosenstraße …“
Untermauert werden die Veränderung in diesem verwehten Jahrhundert mitunter durch die Einblendung von neuen Wortfindungen, unter anderem durch die Jugendsprache, durch neue modische Begriffe, die plötzlich in aller Munde sind und schnell wieder verschwinden. Hingegen wirkt die Sprache des Autors nie aufgesetzt, auch dann nicht, wenn er mit den Lauten spielt und die Cafés erwähnt
„… in denen
wir vertraut verraucht gesessen sind
und tauchen fort in die Nebel“.
Jochen Kelter: „Verwehtes Jahrhundert“, Gedichte, 2023, 127 Seiten, Caracol Verlag, Warth
Von Zsuzsanna Gahse
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