von Jeremias Heppeler, 03.09.2019
Soundtrack für Fieberträume
Yagua heisst die neue Band des Frauenfelders Johannes Eiholzer. Das Debüt gelingt mit der ersten EP «Inward Eye» furios. Es ist im gerade von der Stadt Frauenfeld mit dem Förderpreis ausgezeichneten Label «Augeil Records» von Tobias Rüetschi erschienen.
Als ich damit beginne, diese Rezension zu schreiben, liege ich mit einer Lebensmittelvergiftung auf einem Sofa in Lissabon. "Zu viele Informationen!", denken Sie jetzt und ja, vielleicht gibt es Dinge, die man als Autor lieber für sich behalten würde. Andererseits spielt die gegenwärtige Gefühlslage des Rezipienten bei Musik immer eine entscheidende Rolle. "Davon muss man sich als Journalist doch frei machen.", denken Sie jetzt und nein, das geht nicht, schon gar nicht bei einer Band wie Yagua, die irgendwo tief drin ansetzt, die Ursuppe rührt, die Gründungsmythen knetet. Passend dazu liege ich da also, fiebrig, ausgelaugt, zitternd, schwitzend, mit klapprigen Fingern die Spotify-App suchend. Und dann geht's los.
Der Titeltrack "Inward Eye" beginnt als blosser Geist von einem Song. Schabend. Kratzend. Fragmentarisch. Abgehakt. Stühle umwerfend. Alte Frauen erschreckend. Dann erscheint uns Sänger Johannes Eiholzer, der einmal in imaginären Schlangenlederstiefeln über die Bruchstücke marschiert, die sich jetzt ruckzuck doch noch zu einem Gesamtbild zusammen wuscheln. In der Folge bricht der Song ein ums andere Mal, wird ab Minute drei erschreckend eingängig und zerfällt dann wieder. Wir denken an Led Zeppelin. Und damit auch an Wolfmother. Wir denken an den Black Rebel Motorcycle Club. Wir denken an Verfolgungswahn. Wir denken an Sparta. An Sonnenbrand. An Dschungelexpeditionen. Und dort, mitten drin, im Gebüsch: Frauenfeld. Augeil Records. Yagua. Die sterblichen Überreste von Franky Four Fingers.
Der Mut zur grossen Geste hebt die EP aus der Masse heraus
Die nächste Station heisst "Do Not Go Gentle Into That Good Night", der vielleicht stärkste Song dieser ungemein dichten EP. Der zuckelt zunächst merkwürdig freejazzig herum, irgendwie hypnotisch, so David Lynch-mässig und entwickelt dann im Einsatz von massiven Gitarrenriffs, die sich fast bockig dazwischen schalten, eine ungemeine Energie, die unaufdringlich an Black Sabbath erinnert. Und ja, Yagua klingt überladen, jedes Stück vereint und schichtet zig Ideen in sich, aber dieser Mut zu grossen Gesten, zum grossen Wahn, diese "auf-keinen-Fall-stecken-wir-jetzt-zurück"-Attitüde, hebt die EP aus der Masse, wird zum Alleinstellungsmerkmal und generiert eine ungemeine Anziehungskraft. Jeder Song ein eigener Kosmos. Und nicht in allen gibt es Sauerstoff.
Viele Verschnaufpausen erlaubt uns die Platte aber ohnehin nicht. "Prufrock" wirkt im Vergleich zu seinen fünf Songcousins extrem hart und bodenständig, ein knarziger Arbeiter, ein echter Schaffer. Ohne viel Federlesen, harter, konsequenter, glasklarer Punk mit Hardrock Anleihen amerikanischer Schule. Ein Mitwipper und Mittagsbieraufmacher, der dann in eine schwummrigen Instrumentalpart auseinandergeht. "Dismantle The Sun" beruhigt und dann wieder, tupft uns den Schweiss ab und scheut sich auch nicht vor den trippigsten, kunterbuntesten Gitarrenausbrüchen, aus denen sich dann "I Miss Looking At Earth" mit fiebrigen Bluesvibes herausdreht. Wir denken an Mother Tongue. An Science Fiction. An das Kino der 70er Jahre. An Colonel Kurtz. Kurzum: Wir hören hier einer Band beim wahnsinnig werden zu und das macht ungeheuren Spass.
Eintauchen in den wohlig warmen Prog-Psych-Sumpf
Zum Abschluss dann 3:43 Minuten "Swirl", der zunächst ein wenig angeschlagen vor sich hin tänzelt, aber dann das Tempo anzieht wie Lance Armstrong zu besten Doping Zeiten. Sound und Gesang gehen jetzt Hand in Hand, verquirlen sich in brechenden Wellen, fahren auseinander, klatschen aufeinander. Da schäumt er nochmal auf, der ganze Yagua-Eintopf, ehe er im finalen Hurra überkocht und sich über den ganzen Boden ergiesst. "Inward Eye" markiert ein absolut homogenes Werk, das stetig in alle Himmelsrichtungen und Verweissysteme ausbrechen möchte, das aber musikalisch so markant zusammengepfercht ist, dass wir als Zuhörer voller Freude in den wohlig warmen Prog-Psych-Sumpf eintauchen und den Dreck danach sogar ein wenig antrocknen lassen und stolz zur Schau tragen. Das ist der Soundtrack für Fieberträume!
Mehr von Yagua: Die komplette EP gibt es hier.
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