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Warum wir mehr Musikunterricht an unseren Schulen brauchen

Warum wir mehr Musikunterricht an unseren Schulen brauchen
„Gerade an Primarschulen braucht es qualifizierten Unterricht, weil die Kinder oft erstmals mit Musik in Berührung kommen“, sagt Beat Hofstetter, Studiengangsleiter für Schulmusik auf den Sekundarstufen I und II an der Hochschule für Musik Basel. | © Canva

Musik ist das allgegenwärtigste Medium unserer Zeit. In unseren Schulen fristet das Fach trotzdem oft ein Nischendasein. Dabei könnte es viel zum Lernerfolg junger Menschen beitragen. (Lesedauer: ca. 12 Minuten)

Eigentlich ist die Sache ziemlich klar. Fast jede:r hört, fast ständig Musik. Sie ist allgegenwärtig- Man muss nur mal die Zahl der Menschen im Zug zählen, die Kopfhörer im Ohr haben. Musik ist immer noch eines der beliebtesten Medien unserer Zeit. Da wäre es doch ganz gut, sich damit auszukennen. 

Erst recht, weil zahlreiche Studien belegen, dass Musikunterricht gut ist für Schülerinnen und Schüler. Er kann nicht nur kognitive und akademische Vorteile bieten, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zur sozialen und emotionalen Entwicklung der Schüler leisten. 

Die Studienlage: Was Musikunterricht leisten kann

Drei Beispiele dafür: Musikunterricht fördert die Zusammenarbeit und Teamarbeit unter den Schüler:innen. Schüler:innen, die regelmässig Musikunterricht haben, zeigen eine höhere emotionale Intelligenz und bessere Fähigkeiten im Umgang mit anderen.  Musikunterricht hilft insbesondere benachteiligten Schüler:innen, soziale Barrieren zu überwinden. Und: Schüler, die an schulischen Musikprogrammen teilnehmen, haben im Durchschnitt bessere akademische Leistungen, insbesondere in Mathematik und Sprachen, verglichen mit Schülern, die nicht an solchen Programmen teilnehmen.

Die Realität an unseren Schulen: Lehrer:innenmangel und Unterrichtsausfall

Obwohl dies alles bekannt ist, sieht die Realität in unseren Schulen oft anders aus. In bayerischen Schulen wurde der Musikunterricht gerade erst gekürzt, in ganz Deutschland ist der Lehrermangel so gross, dass der Musikunterricht oft ausfällt, oder von fachfremden Personen bestritten werden muss. Die Bertelsmann-Stiftung konstatierte 2020, dass „weniger als die Hälfte des vorgeschriebenen Unterrichts an Grundschulen von Musiklehrkräften erteilt werden.“ Auch in der Schweiz sinkt das Niveau offenbar: Der Verband Schweizer Schulmusik forderte 2021 „Mindeststandards für einen hochwertigen harmonisierten Musikunterricht an den Volksschulen“.

Nicht nur das: Bereits im November 2013 hatte eine vom Bundesamt für Kultur eingesetzte Arbeitsgruppe vor dem Mangel an Musiklehrer:innen gewarnt: „Auf Primarstufe sowie (weniger akzentuiert) auf Sekundarstufe I gibt es nach Meinung der Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe zu wenig Lehrkräfte für das Fach Musik. Der Mangel an Musiklehrkräften führt dazu, dass fallweise Lehrkräfte ohne Musikausbildung eingesetzt werden müssen oder im Stundenplan vorgesehene Musiklektionen ausfallen“, heisst es in dem Bericht

 

Ist der Musikunterricht an den allgemein bildenden Schulen überhaupt noch attraktiv genug für junge Menschen? 

Immer weniger Lehrer:innen wollen Musik unterrichten

Damals wurde in der Arbeitsgruppe befürchtet, dass der Lehrkräftemangel in Zukunft zunehmen werde: „An den Pädagogischen Hochschulen schliessen gemäss Verband Schweizer Schulmusik (VSSM) nur knapp 48 Prozent der zukünftigen Primarlehrpersonen ihre Ausbildung mit dem Fach Musik ab. Prekär ist die Situation auch auf der Sekundarstufe I, wo sich gerade noch jede/r zehnte Studierende im Fach Musik ausbilden lässt.“ Die Lage ist also kompliziert.

Ganz grundsätzlich gilt für den Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen in der Schweiz: Das Fach Musik ist in der Regel bis zur obligatorischen Schulzeit verpflichtend, die normalerweise bis zur 9. oder 10. Klassenstufe dauert, je nach Kanton kann das variieren. Nach der obligatorischen Schulzeit können Schülerinnen und Schüler wählen, ob sie Musik weiterhin als Schulfach belegen möchten, abhängig von den Lehrplänen der weiterführenden Schulen.

Die Situation im Thurgau

Im Thurgau bedeutet das konkret: An den Volksschulen geht man davon aus, dass der Musikunterricht wie vorgesehen auch stattfindet. Genaue Statistiken zu möglichen Unterrichtsausfällen oder auch zur Zahl der Fachlehrer:innen an den einzelnen Schulen gibt es nach Angaben des Amt für Volksschulen aber nicht.

An den weiterführenden Schulen ist die Datenlage nicht wesentlich besser. Man sei da bei Fragen zu Unterrichtsausfall und Anzahl der Lehrpersonen in einzelnen Fächern „statistikmässig nicht besonders gut aufgestellt“, heisst es im zuständigen kantonalen Amt für Mittel- und Hochschulen. An den einzelnen Schulen ist die Situation unterschiedlich. „Für uns ist Musik ein wichtiger Schwerpunkt in der Ausbildung“ sagt beispielsweise Markus Peter, Prorektor an der Pädagogischen Mauritätsschule (PMS) Kreuzlingen. 

Das Schwerpunktfach «Bildnerisches Gestalten und Musik» mit dem Maturaprüfungsfach Musik wählen jeweils demnach etwa 24 Schülerinnen und Schüler pro Jahrgang (entspricht einer Klasse). Daneben wählen weitere 24 Schüler:innen pro Jahrgang Musik als Ergänzungsfach. Das Interesse schüler:innenseits an dem Fach sei über die Jahre gleich geblieben, er stelle jedenfalls keinen Bedeutungsverlust fest. Geeignete Lehrer:innen zu finden sei immer eine Herausforderung, „aber bis jetzt ist es uns immer gelungen“, sagt Markus Peter.

 

Musik als profilbildende Massnahme: Szene vom Campuskonzert 2024 an der PMS Kreuzlingen. Bild: zVg

Bislang keine Probleme Fachlehrer:innen zu finden

Stefan Schneider, Rektor der Kantonsschule Romanshorn, findet, dass „die Auswahl an qualifizierten Lehrpersonen im Fach Musik im Vergleich zu anderen Fächern wie Deutsch/Geschichte geringer“ sei, Grundsätzlich sei es aber immer noch gut möglich, „Musiklehrpersonen auf der Ebene Mittelschule zu rekrutieren“. Bei den Schüler:innen registriert er ein eher geringes Interesse am Instumentalunterricht, für das Ergänzungsfach Musik entschieden sich demnach auch eher wenige junge Menschen. Grundsätzlich sei Musik aber „ein wichtiger Teil unserer Schulkultur“. Und: „Wir pflegen bewusst die Musik im Alltag zu integrieren durch Konzertanlässe beispielsweise.“

An der Kantonsschule Frauenfeld zählt Musik als Grundlagenfach und wird somit von allen Schülerinnen und Schülern besucht. Es gebe auch keine Probleme, „gute Musiklehrpersonen zu finden“, schreibt die Rektorin Chantal Roth auf Nachfrage von thurgaukultur.ch 

Sinkendes Interesse an Instrumentalunterricht

Marcello Indino, Rektor der Kantonsschule Kreuzlingen, hat einen interessanten Trend festgestellt. Während Musik einerseits zu einem der beliebtesten Ergänzungsfächer an seiner Schule zählte, habe das Interesse am Instrumentalunterricht deutlich abgenommen: „Der freiwillige Instrumentalunterricht erlebte vor etwas weniger als 10 Jahren seinen Höhepunkt – da belegten etwas mehr als 60 Schülerinnen und Schüler freiwilligen Instrumentalunterricht neben den obligatorischen Fächern. Seither sank diese Anzahl kontinuierlich und ist heute bei rund einem Drittel weniger angelangt“, erklärt Indino. Ob das ein dauerhafter Trend sei, könne man derzeit allerdings noch nicht absehen. „Erst die nächsten Jahre werden zeigen, ob der aktuelle Tiefpunkt vorübergehend oder doch nachhaltig ist“, so der Kreuzlinger Rektor.

Einen Mangel an qualifizierten Musiklehrer:innen hat er an seiner Schule noch nicht festgestellt. „Die Kantonsschule Kreuzlingen scheint als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden, so dass uns Stellenneubesetzungen in der Regel gut gelingen“, schreibt er in einer E-Mai. Sein Rezept damit das auch so bleibt: „Dem allgemeinen Lehrpersonenmangel kann mit einem vielfältigen Angebot und guter Infrastruktur entgegengewirkt werden“, findet Marcello Indino. 

 

„Mein Eindruck ist, dass wir gerade hier im Thurgau strukturell noch Luft nach oben haben.“

Kristin Thielemann, Musikpädagogin über Musikunterricht im Kanton

Wenn man einen umfassenderen Blick auf die Lage im Thurgauer Musikunterricht bekommen will, dann landet man früher oder später bei Kristin Thielemann. Die ehemalige Trompeterin im Orchester der Deutschen Oper Berlin beschäftigt sich bereits seit Jahren damit, wie man Musikunterricht spannend gestalten kann und kennt die Bedingungen im Thurgau gut. In einem eigenen Podcast spricht sie regelmässig über Herausforderungen und Trends im Musikunterricht.

Sie sagt: „Mein Eindruck ist, dass wir gerade hier im Thurgau strukturell noch Luft nach oben haben.“ Sie macht das vor allem an drei Punkten fest. In Sachen Digitalisierung gebe es Regionen, die schon um ein Vielfaches weiter seien als der Thurgau: Zum Beispiel mit digitalen Devices für Lehrkräfte, die von den Schulen zur Verfügung gestellt werden und ein Budget für Apps. Derzeit sei das vielfach ein „Privatvergnügen“ der Lehrkräfte und zudem aufgrund des Datenschutzes bei der Speicherung von Schülerdaten auf Privatgeräten rechtlich mehr als fragwürdig. 

Einen weiteren Minuspunkt sieht sie darin, dass viele Musikschulen immer noch als Verein geführt und nicht in die Schulgemeinde integriert sind. „Ich finde, im Jahr 2024 darf auch an dieser Stelle professionalisiert werden. Musikschulen sind Bildungseinrichtungen!“, erklärt Kristin Thielemann auf Nachfrage von thurgaukultur.ch.  

Viele Lehrer:innen sind bereits abgewandert

Was sie aber besonders umtreibt, ist der Lehrkräftemangel. „Aufgrund der höheren Löhne in den umliegenden Schweizer Kantonen sind viele gute Lehrkräfte in den letzten Jahren abgewandert, oder arbeiten an den Thurgauer Musikschulen nur noch in einem kleinen Pensum. Da kann sich jeder selbst ausmalen, was das auf Dauer für unseren Kanton bedeuten wird“, sagt die Expertin. Aber noch gebe es auch im Thurgau „hervorragende Lehrkräfte, die mit viel Enthusiasmus Gutes für unsere schöne Region tun“.  

 

Das ganze Interview mit Kristin Thielemann

Kristin Thielemann, ehemals Trompeterin im Orchester der Deutschen Oper Berlin, ist durch den Erfolg ihres üben & musizieren Spezials «Voll motiviert» und den gleichnamigen Podcast in Deutschland, Österreich und der Schweiz bekannt. Ihr Eltern-Ratgeber «Jedes Kind ist musikalisch» (Schott Music 2016) wurde ins Chinesische übersetzt und ihre Veröffentlichungen für den Trompetenunterricht sind beliebte Standardwerke. Als Dozentin ist sie zu Gast bei Hochschulen und Musikschulen im In- und Ausland.

Frau Thielemann, warum ist Musikunterricht wichtig?

Darf ich die Gegenfrage stellen: Warum sollte Musikunterricht unwichtig sein? Beim Musizieren geht es doch um das, was uns im Kern ausmacht: Um das Glück! Und um das herauszulassen, was in uns steckt und damit andere Menschen zu erfreuen, ist ein Musikunterricht nützlich, der uns befähigt, in diesem Bereich kompetent zu werden. Gerade in Hinblick auf eine immer stärker werdende Künstliche Intelligenz, die uns heute Kleinigkeiten erleichtert und uns in wenigen Jahren viel Arbeit abnehmen wird, sollten wir uns dringen überlegen, welche Lerninhalte ein Schulsystem der Zukunft wirklich braucht.

Dass junge Menschen nicht motiviert sind, ergoooglebares Wissen zu lernen, oder sich über einen langen Zeitraum mit Dingen zu beschäftigen, die jede KI schneller und effektiver kann, haben Lehrkräfte längst festgestellt. Auch der breiten Masse sind mittlerweile Stichwörter wie Generation Z oder Generation Alpha geläufig. Nur woher die Negativattribute dieser Generationen kommen und wie man ihre Resilienz und ihren Lerneifer steigert, darauf fehlen vielfach die Antworten. Im Musizieren wie auch im Sport stecken viele Antworten auf das, was die Gen Z und Gen Alpha für ihr Leben nutzen könnten. Der Musikunterricht hat für eine hohe Bildung gleich noch ein paar Vorteile mehr im Gepäck. Aber für die musikalische Kompetenz braucht es guten Musikunterricht, für alle Kinder und Jugendlichen, die es gerne möchten.
 
Wenn ich also allen Leserinnen und Lesern eine Frage stellen dürfte, dann folgende: Wenn Glück die „Währung“ unserer Welt wäre, wie müssten die Schulen aussehen, die unsere Kinder auf ihr Leben vorbereiten und ihnen die bestmöglichen Startchancen ermöglichen?

Wie gut ist der Musikunterricht aktuell in der Schweiz und im Thurgau?

Bei meinen Fortbildungen erlebe ich den Musikunterricht von studierten Lehrkräften in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf einem guten Niveau und sehe, dass sich die Szene weiterhin stark und in enormer Geschwindigkeit verbessert. Die Musikschulen in Europa haben sich wirklich auf den Weg gemacht: Inklusion, Demokratieförderung, Individualisierung der Lernziele, Kreativitätsförderung – das sind vielerorts Werte, die mit dem Musikunterricht gelebt werden. In der Schweiz ist besonders gut, dass in vielen Kantonen regelmäßige Fortbildungen der Lehrkräfte stattfinden, auch kollegialer Austausch wird gefördert. Vielerorts, wie an der Hochschule Luzern, an der ich im Dozierendenteam bin, finden Fortbildungen für Lehrkräfte statt, die zudem von Studierenden besucht werden können. Wenn hier die Generationen gemeinsam mit- und voneinander lernen, entsteht für alle ein wirklicher Schatz!
 
Bezogen auf den Thurgau muss ich ehrlicherweise sagen, dass ich etwas weniger enthusiastisch bin. Denn aufgrund der höheren Löhne, in soweit ich weiß allen umliegenden Schweizer Kantonen, sind viele gute Lehrkräfte in den letzten Jahren abgewandert, oder arbeiten hier nur noch mit einem kleinen Pensum. Die Musikschulszene leidet jetzt schon vielerorts unter Fachkräftemangel. Da kann sich jeder selbst ausmalen, was das für unseren Kanton bedeuten wird. Es gibt hier im Thurgau aber auch viele Positivbeispiele, hervorragende Lehrkräfte, die mit viel Enthusiasmus Gutes für unsere schöne Region tun oder Musikschulen, die geniale räumliche Rahmenbedingungen oder gelungene Kooperationsprojekte mit Schulen haben. Aber mein Eindruck ist, dass gerade hier im Thurgau viel Luft nach oben ist. Immerhin haben wir Musikschulmenschen nun vom Bund mit dem Konzept „Junge Talente Musik“ ein brandneues Förderprojekt für begabte Schülerinnen und Schüler bekommen, das die Familien und somit letztlich auch uns Lehrkräfte bei der Arbeit unterstützt. Ein weiteres Manko ist sicher, dass im Thurgau viele Musikschulen als Verein organisiert und geführt und nicht als Bildungseinrichtung in die Schulgemeinde integriert sind. Ich finde, im Jahr 2024 sollte auch an dieser Stelle professionalisiert werden!

Luft nach oben gibt es zum Beispiel auch bei der Digitalisierung. Denn viele Regionen, auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben ihre Musikschullehrkräfte längst mit iPads ausgerüstet und nutzen spezielle Musikschul-Apps (in Deutschland ist das vielfach iMikel, das individualisierbare Tools anbietet). Mit so einer App wird für uns Lehrkräfte Verwaltung und Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern und den Familien deutlich einfacher.

Das machen die Schulen hier im Kanton ja gerade vor, die Apps wie Klapp oder EScolar eingeführt haben. Für alle Beteiligten ist es einfacher, wenn die Kommunikation mit den Eltern nicht über die privaten Chat-Apps oder per Mail läuft. Eine Plattform für alles, was den Musikschulunterricht betrifft. So muss das gehen!

 

Ganz grundsätzlich gefragt: Was muss guter Musikunterricht heute bieten?

Guter Musikunterricht sollte zwei Sachen vereinen: Die Wünsche meines Gegenübers wahrzunehmen, wertzuschätzen und in den Unterricht zu integrieren und gleichzeitig unser Kulturgut, die Welt der Musik im Blick zu haben, die es an die nächste Generation weiterzugeben gilt.

Was halten Sie von den jüngsten Kürzungen des Musikunterrichts in Bayern?

Auf die PISA-Offensive Bayern ist viel geschimpft worden, denn Fächer zu Lernclustern zu machen, wo in einem Fächerverbund unterrichtet wird, wie es die Lehrkraft selbst für gut befindet, heißt eben ganz häufig, dass Lehrkräfte ohne spezielle Musikausbildung dieses vorbereitungsintensive Fach zu Gunsten anderer Fächer kürzen. Dadurch geht den Kindern aber entsetzlich viel verloren. Nicht nur für das Fach Musik selbst, sondern vor allem für alle anderen Fächer, die von den Transfereffekten wie erhöhte sprachliche und mathematische Kompetenz von Musik profitieren. Aber auch die „Soft Skills“, die beim Musizieren unser täglich Brot sind, werden nicht genutzt. Beim Musizieren können wir beispielsweise mit anderem Menschen gemeinsam tolle Projekte umsetzen und hohe Leistungen erbringen, selbst wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen oder im gleichen Alter sind. Wir trainieren Hörfähigkeit, beim Ensemblespiel das Eingehen auf andere, nonverbale Aushandlungsprozesse, Demokratie. Und wir erleben, dass uns das Musizieren glücklich macht. Musik ist Glück auf Knopfdruck! Aber hierzu muss erst eine gewisse musikalische Kompetenz aufgebaut sein. Wenn sich der Musikunterricht wie ein Essen im Fastfood-Restaurant gestaltet, wird nichts entstehen.

Welche Reformen braucht der Musikunterricht in unseren Schulen?

Schauen wir doch einmal nach China, nach Afrika oder Südamerika. Was kennen wir von der dortigen Musikszene? Chinesische Eltern, die ihren Kindern mit Musikunterricht hohe Lernkompetenzen in allen anderen Schulfächern ermöglichen. Die Motivation ist hier, die Kinder noch stärker zu drillen – das ist nicht unsere europäische Philosophie von Lernen und Erziehung, aber der Gedanke, Musizieren mit Bildung zu verknüpfen, funktioniert auch bei anderen PISA-Gewinnerländern.

In Afrika gibt es Schulen in den Slums, die es schaffen, mit Musikunterricht die Kinder und Jugendlichen ihrer Region zu einer Einheit zusammenzuschweißen, die in ihrer Freizeit eben nicht „abhängt“, sondern mit Musik viele sinnvolle Dinge für die Gesellschaft vollbringt. Die Kultur entwickelt sich hier zu einem ernstzunehmenden Wirtschaftszweig! Das südamerikanische Musik-Bildungsprogramm „El Sistema“ hat mittlerweile nicht nur einen ganzen Kontinent verändert, sondern über 60 Länder der Welt zu Nachahmerprojekten inspiriert.

Soll ich einmal ein wirkliches Luftschloss für unsere Region bauen? Das wäre für mich ein Deutsch-Schweizerisches Zentrum der Musik auf Klein Venedig, wo neben der Südwestdeutschen Philharmonie auch die Musikschulen aus Konstanz und Kreuzlingen ihren Platz finden, wo es Konzert-, Proben- und Auftrittsmöglichkeiten für alle Menschen unserer Region gibt, wo Austausch und Zusammenarbeit – ein Miteinander unter einem Dach stattfindet. Ein Gebäude, in dem alle Schülerinnen und Schüler Musikunterricht erhalten könnten – und zwar nicht nur in Hinblick auf Begabung oder hohe Leistung, sondern mit dem Fokus auf das, was in ihnen steckt, was sie musizieren und der Welt von sich geben möchten. Ein Zentrum der Musik, in dem sich auch der türkische oder albanische Chor oder das Baglama-Ensemble Zuhause fühlen, die bis dato in Hinterzimmern proben. Ein Ort, wo es offene Musizierräume mit Silent-Instrumenten gibt, auf denen auch die Menschen musizieren können, die kein eigenes Musikinstrument haben; Instrument-Sharing sozusagen. Es gibt bereits Konzepte mit offenen Musizierlernhäusern, die europaweit für Aufmerksamkeit sorgen. Die Verbindung mit einem Konzertsaal und noch dazu grenzübergreifend, ist hingegen neu. So ein Gebäude könnte nicht nur für die Menschen unserer Region äußerst wertvoll sein, sondern auch langfristig ein Ort, von dem noch Generationen nach uns profitieren. Ein ähnliches Wagnis dürfte der Bau des Konzils gewesen sein. Aber auch das KKL Luzern, oder die Elbphilharmonie Hamburg waren vor ihrer Grundsteinlegung umstritten. Heute wird niemand mehr in Abrede stellen, dass diese Bauten eine ganze Region zum Positiven verändert haben. Wir hier in Konstanz-Kreuzlingen wohnen an einem der schönsten Flecken Erde der Welt. Warum sollten wir hier nicht auch zu kulturellen Vorreitern werden, die mit einer Bildungs- und Kulturpolitik alle Menschen (nicht nur die Kinder und Jugendlichen) entscheidend prägen und somit Vorbilder für andere Städte sind?

Mehr Eminem statt Mozart? Wie sehr sollte man Musikrichtungen einbinden, die Schülerinnen mögen?

Wenn ich möchte, dass Schülerinnen und Schüler von der Musik begeistert sind, die mich fasziniert, muss ich offen sein, auch in ihre Musikwelt einzutauchen. Ich würde also nicht sagen Eminem statt Mozart, sondern Eminem UND Mozart. Dann gelingt Unterricht!

Welche Rolle spielen digitale Tools im Musikunterricht?

Für viele Kinder und Jugendliche gehört die digitale Welt zum Leben dazu. Beim Lernen können Apps vieles erleichtern, wie das Erlernen von Noten- oder Rhythmuslesen. Wir haben auch die Möglichkeit, tolle kleine Projekte mit den Schülerinnen und Schülern umzusetzen: Schon mit sehr jungen Kindern kann man schnell einmal aus einer kniffligen Stelle einen Klingelton produzieren. Meine Schüler lieben Splitscreen-Videos, wo sie mit sich selbst auf verschiedenen Fenstern Ensemble spielen können. Dann gibt es Adventskalender-Apps, die ja auch als digitaler Countdown vor den Sommerferien laufen können und wo die im Unterricht erlernte Musik andere Menschen erfreut. Auch YouTube oder Social Media werden häufig als Impulsgeber genommen. Aber letztlich kann auch völlig analoger Unterricht toll gelingen. Ich mag beides – analog und digital – und setze es sehr bewusst ein.

Ist der Musikunterricht überhaupt noch attraktiv für Schüler:innen?

Stellt man sich die Frage, ob der Musikunterricht in unseren Schulen heute eine zu geringe Bedeutung hat, kommt man irgendwann auch zu der Frage, ob der Unterricht denn überhaupt noch spannend genug ist für die junge Generation oder er in alten Modellen verhaftet ist. Mit anderen Worten: Ist der Musikunterricht heute noch attraktiv genug? 

Kristin Thielemann hat da eine klare Haltung, sie sagt: „Guter Musikunterricht sollte zwei Sachen vereinen: Die Wünsche meines Gegenübers wahrzunehmen, wertzuschätzen, in den Unterricht zu integrieren und gleichzeitig unser Kulturgut, die Welt der Musik, im Blick zu haben, die es an die nächste Generation weiterzugeben gilt.“ 

Mehr Eminem statt Mozart?

Auf die Frage, ob das jetzt bedeute, dass der Musikunterricht mehr Eminem statt Mozart beinhalten sollte, antwortet Thielemann: „Wenn ich möchte, dass Schülerinnen und Schüler von der Musik begeistert sind, die mich fasziniert, muss ich offen sein, auch in ihre Musikwelt abzutauchen. Ich würde also nicht sagen: Eminem statt Mozart! Sondern Eminem und Mozart. Dann gelingt Unterricht!“

Beat Hofstetter kennt die Debatte über den Musikunterricht an Schulen aus verschiedenen Perspektiven: Er ist Musiker (Saxophonist), war Lehrer für Musik auf der Gymnasialstufe und ist heute Leiter der Abteilung Schulmusik an der Hochschule für Musik Basel. In dieser Aufgabe hat er mehrere musikpädagogische Forschungsprojekte initiiert. 

 

„Je jünger die Kinder sind, umso mehr sollte man sie selbst ausprobieren lassen und ihnen so die Chance geben, sich selbst musikalisch auszudrücken.“

Beat Hofstetter, Studiengangsleiter für Schulmusik auf den Sekundarstufen I und II an der Hochschule für Musik Basel

Er sagt: „Der Schlüssel für guten Musikunterricht ist, Schüler und Schülerinnen zu involvieren. Je jünger die Kinder sind, umso mehr sollte man sie selbst ausprobieren lassen und ihnen so die Chance geben, sich selbst musikalisch auszudrücken.“ Kreation und Improvisation sieht Beat Hofstetter hier als zentral an. Dazu zählt für ihn auch, mit den Kindern und Jugendlichen regelmässig in Konzerte zu gehen. 

Um das alles zu gewährleisten, bräuchte es aber mehr Musiklehrer:innen. „Es gibt zu wenig Lehrpersonen, die Musik fachlich fundiert unterrichten können. Das führt dazu, dass auch Lehrer:innen Musik unterrichten müssen, die dafür eigentlich nicht ausgebildet sind.“ 

Ein Problem: Mängel in der Lehrer:innenausbildung

Einen Grund für den Mangel sieht der Experte auch in der Lehrer:innenausbildung: „Der Fachunterricht wurde an den Pädagogischen Hochschulen reduziert. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Qualität leidet“, sagt der Basler Studiengangsleiter für Schulmusik. Aus seiner Sicht müsste die Ausbildung der Lehrer:innen flexibler werden, die sei in vielen Bereichen zu starr: „Eigentlich müssten wir hier gemeinsam ein neues Modell entwickeln, um diesen Mängeln zu begegnen“, findet Beat Hofstetter.

Besonders wichtig für ihn - der Musikunterricht in den Primarschulen: „Gerade hier braucht es qualifizierten Unterricht, weil die Kinder oft erstmals mit Musik in Berührung kommen“, sagt Beat Hofstetter. Je nach Qualität des Unterrichts könne man da viel richtig oder eben auch viel falsch machen, findet der Experte. Das passt zu den Forderungen des Verband Schweizer Schulmusik aus dem Jahr 2021: Es brauche „Mindeststandards für einen hochwertigen harmonisierten Musikunterricht an den Volksschulen“, hiess es damals.

Grosse Vision: ein Deutsch-Schweizerisches Zentrum der Musik

Zum Schluss noch einmal zurück zu Kristin Thielemann. Sie hat jenseits des Musikunterrichts an den Schulen einen ganz anderen, viel grösseren Traum: Mit Hilfe von Musikunterricht die Kinder und Jugendlichen einer Region zu einer Einheit zusammen zu schweissen. Wie das hier bei uns gelingen könnte? 

Mit einem Deutsch-Schweizerischen Zentrum der Musik auf Klein Venedig zwischen Kreuzlingen und Konstanz, sagt Kristin Thielemann: „Dort würden neben der Südwestdeutschen Philharmonie auch die Musikschulen aus Konstanz und Kreuzlingen ihren Platz finden, wo es Konzert-, Proben- und Auftrittsmöglichkeiten für alle Menschen unserer Region gibt, wo Austausch und Zusammenarbeit – ein Miteinander unter einem Dach stattfindet. Ein Gebäude, in dem alle Schülerinnen und Schüler Musikunterricht erhalten könnten – und zwar nicht nur in Hinblick auf Begabung oder hohe Leistung, sondern mit dem Fokus auf das, was in ihnen steckt, was sie musizieren und der Welt von sich geben möchten.“ 

Ein Ort für Musik und Begegnung

Für die ehemalige Trompeterin im Orchester der Deutschen Oper Berlin, ist dieses Zentrum aber auch ein Begegnungszentrum: „Ein Zentrum der Musik, in dem sich auch der türkische oder albanische Chor oder das Baglama-Ensemble Zuhause fühlen, die bis dato in Hinterzimmern proben. Ein Ort, wo es offene Musizierräume mit Silent-Instrumenten gibt, auf denen auch die Menschen musizieren können, die kein eigenes Musikinstrument haben; Instrument-Sharing sozusagen. Es gibt bereits Konzepte mit offenen Musizierlernhäusern, die europaweit für Aufmerksamkeit sorgen. Die Verbindung mit einem Konzertsaal und noch dazu grenzübergreifend, ist hingegen neu. So ein Gebäude könnte nicht nur für die Menschen unserer Region äusserst wertvoll sein, sondern auch langfristig ein Ort, von dem noch Generationen nach uns profitieren.“

Klingt nach einer grossen Vision. Fragt sich nur, wer in diesen Zeiten die notwendigen finanziellen Ressourcen hat, diese Vision mit Leben zu füllen. Andererseits: Gab es jemals bessere Zeiten, um in visionäre und grenzüberschreitende Begegnungsräume zu investieren?

 

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