von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 16.09.2020
Auf den Spuren eines Schiffsunglücks
Das Seemuseum Kreuzlingen geht neue Wege. In einem beeindruckenden Vermittlungsformat kann man jetzt die Geschichte um das gesunkene Dampfschiff «Jura» neu entdecken - in einem digitalen Tauchgang.
Als das Telegramm um 12.45 Uhr des 12. Februar 1864 bei der Bayerischen Bodensee-Dampfschifffahrt in Lindau eintrifft, ist es bereits zu spät: „Zusammenstoss der beiden Dampfboote Jura und Zürich bei Münsterlingen. Kommen Sie gefälligst sofort hierher.“. Da hatte die „Stadt Zürich“ bereits ein grosses Loch in den vorderen Teil des Bugs der „Jura“ gerissen. Das Schiff war verloren. Ein Mensch kam bei dem Unglück ums Leben, die Jura sank auf den Grund des Bodensees. Dort liegt es noch heute. Es gilt als eines der besterhaltenen Wracks eines Dampfschiffes.
Viele Geschichten ranken sich um die Jura. Digital entdecken kann man einige davon jetzt in einem neuen und aussergewöhnlichen Online-Vermittlungsformat des Seemuseum Kreuzlingen. „Das Dampfschiff Jura. Zeitkapsel in der Tiefe“ heisst das so genannte Digitorial, das das Museum in den vergangenen Monaten entwickelt hat und seit dem 16. September online ist. Hinter der Initiative stehen die Agentur maze pictures swiss und Engagement Migros in Kooperation mit den Frankfurter Museen Schirn, Städel und Liebieghaus. Das Seemuseum war im vergangenen Jahr als eines von acht Museen in der Schweiz aus mehr als 40 Bewerbern ausgewählt worden für das insgesamt drei Jahre dauernde Projekt.
Kürzer als ein Ausstellungskatalog, aber auch interaktiver
Diese so genannten Digitorials (zusammengesetzt aus den Begriffen Digital und Editorial) sind im Wesentlichen sehr hübsch gestaltete Websites mit multimedialen Inhalten, die auch leicht über sozialen Medien geteilt werden können. Sie sollen Aufmerksamkeit wecken, Lust machen auf einen Museumsbesuch, das Publikum vor dem Besuch einstimmen und ihm danach als Nachschlagewerk dienen. Kürzer als ein Ausstellungskatalog, aber eben auch interaktiver.
Was das Seemuseum jetzt entworfen hat, ist wirklich bemerkenswert. Es sieht nicht nur sehr schön aus, lässt sich auch intuitiv bedienen. Neben den eindrücklichen Bildern ist die grösste Stärke des Formats, das es aus verschiedenen Perspektiven auf das Ereignis blickt. Es wird nicht nur die Unglücks-Geschichte spannend nacherzählt und ein Blick auf die späteren Ermittlungen geworfen. Es gelingt den Machern auch, daraus eine Geschichte über die Schifffahrt am Bodensee allgemein, die Tücken beim Tauchen nach archäologischen Funden und die vielen Bergungsversuche der „Jura“ zu erzählen. Das ist auch deshalb klug, weil es so für fast jeden einen ganz persönlichen Anknüpfungspunkt gibt.
Eine emotionale Zeitreise unter Wasser
Wer Drama mag, wird die Erzählweise schätzen, wer Schiffe mag, wird die vielen historischen Fotos mögen, wer geschichtlich interessiert ist, dem gibt das Digitorial einen knappen, aber präzisen Überblick zur Entwicklung der Schifffahrt am Bodensee. Und die Unterwasseraufnahmen faszinieren ohnehin die meisten Menschen gleichermassen.
Sei es als Video, dass die Archäologen des Kantons Thurgau 2018 von der Jura gemacht haben oder als historisches Dokument: Mit eigenen Augen zu sehen, wie Ludwig Hain 1969 die Jura unter Wasser entdeckte, erlaubt eine emotionale Zeitreise. Fast so als wäre man damals selbst dabei gewesen. Hain hatte 1969 erstmals das Schiff fotografisch dokumentiert. Das Digitorial zeigt seine Aufnahmen.
In insgesamt sechs Kapiteln (Intro, Unglücksschiff, Zeitzeugin, Tauchziel, Industriedenkmal, Geheimtipp) verbindet das Digitorial all diese Dinge und wird so zu einem ganz eigenen Erlebnis. Packende Texte, spektakuläre Bilder und einige interaktive Elemente: Wer nicht bereits von der Geschichte der Jura fasziniert war, der wird es durch dieses neue Format ganz bestimmt.
Das Digitorial „Zeitkapsel in der Tiefe“ ist hier abrufbar: https://jura.seemuseum.ch/ Es ist kostenlos von überall aus über das Internet erreichbar.
Hintergründe zum Projekt „Digitorials“
Das Digitorial® ist eine Marke der Frankfurter Museen SCHIRN, Städel und Liebieghaus und wurde als kostenloses, digitales Vermittlungsangebot von den drei Frankfurter Häusern konzipiert und vielfach realisiert. Laut Selbstbeschreibung der Entwickler bietet das Digitorial „Hintergründe und Informationen zum kunst- und kulturhistorischen Kontext. Mit ihm erhalten Besucherinnen und Besucher schon vor ihrem Ausstellungsbesuch spannende Einblicke in die Themen, die mit innovativem Storytelling und einer explorativen Userführung leicht zugänglich aufbereitet sind.“
Für die Schweiz wurde das Projekt nun von maze pictures swiss mithilfe des Förderfonds Engagement Migros adaptiert.. Der Förderfonds ermöglicht „Pionierprojekte im gesellschaftlichen Wandel, die neue Wege beschreiten und zukunftsgerichtete Lösungen erproben“, heisst es in einer Medienmitteilung. Der wirkungsorientierte Förderansatz verbinde finanzielle Unterstützung mit coachingartigen Leistungen. Engagement Migros wird von den Unternehmen der Migros-Gruppe mit jährlich circa 10 Millionen Franken ermöglicht und ergänzt seit 2012 das Migros-Kulturprozent. Im Internet: https://digitorials.ch
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- In acht Schritten zum eigenen Kunstraum (21.11.2024)
- Alte Mauern, neue Gedanken (11.11.2024)
- Auf Kinderaugenhöhe (21.10.2024)
- Was hält uns zusammen? (16.10.2024)
- «Falsch gespart»: Kritik am Sanierungs-Stopp (15.10.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Geschichte
- Archäologie
- Forschung
- Digital
- Industrie
- Bodensee
Dazugehörende Veranstaltungen
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Wissen macht glücklich
«Wie wir arbeiten» (2): Kaum jemand schreibt schon so lange für uns wie Inka Grabowsky. Für sie ist das Gefühl, wenn der Groschen fällt, unbezahlbar. mehr
Schauplätze des Zweiten Weltkriegs im Thurgau
Die Frauenfelder Sonderausstellung «Fliegeralarm – Konfliktarchäologie im Thurgau» begibt sich auf Spurensuche. mehr
Annäherung an den Tod
Wie will ich mein Lebensende gestalten? Ein Forschungsprojekt der OST Fachhochschule Ostschweiz widmet sich dieser Fragestellung. Und nutzt dabei auch Instrumente der Theaterpädagogik. mehr