von Inka Grabowsky, 12.04.2022
Das Leiden an der allmählichen Verschrumpelung
Der Kreuzlinger Hans Gysi hat sich in einem Episodenroman mit den Problemen des Alterns auseinandergesetzt – nicht ohne Betroffenenhumor. In den 72 Prosa-Miniaturen von „Paul geht fort“ trifft Melancholie auf Witz. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Schon vor zehn Jahren spielte Hans Gysi mit einer Idee: Der Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur inszenierte eine Lesung seiner Erzählung „Herr Paul geht fort“. Die grundlegende Idee: Ein alternder Schriftsteller will aus seinem Leben ausbrechen. „Ich wusste aber noch nicht, wo die Geschichte hingehen soll“, sagt der Autor heute. Schon damals war Paul ein Lehrer, der über die Arbeit und die Kunst philosophiert.
Inzwischen aber hat er ein ganzes Leben bekommen, das in einem 120-Seiten Buch Platz findet. Die Themen haben Gysi über die Jahre nicht losgelassen. „Ich habe immer wieder Notizen gemacht und einzelne Formulierungen aufgeschrieben. Meine Lektorin hat mich schliesslich motiviert, alles zusammenzufügen.“
Durchaus autobiografische Bezüge
„Es hat mir Spass gemacht, Paul als mein Alter Ego seine Schlüsse ziehen zu lassen“, erzählt Gysi. Meist sei es mit einem Augenzwinkern formuliert. Das Büchlein habe viel mit ihm zu tun, räumt der Künstler ein.
Protagonist Paul hat es sich eigentlich behaglich eingerichtet. Er hat durchaus Erfolge als Schriftsteller, er kann ganz gut mit seinem Brotjob als Teilzeit-Lehrer für „Technisches Englisch“ an einer Berufsschule leben, er versteht sich gut mit seiner Frau.
Leiden an der allmählichen Verschrumpelung
Aber er leidet am Altern und möchte noch eine neue Seite an sich entdecken. Viele der Charakterisierungen hat die Figur mit dem Autor gemein. Sogar eines der zitierten Werke von Paul bedient sich der Formulierungen des Autors Hans Gysi.
„Tiefsinnigen Nonsens“ nennt Gysi die finale Erkenntnis seiner Figur Paul: „Der Mensch ist keine Pastete, und doch ist er mit Fleisch gefüllt“. Sie stammt ursprünglich aus Gysis Erzähl-Band „Die dünne Krankenschwester“.
Lokalkolorit: Kreuzlinger Badi und Kreuzlinger Planetarium
Viele der Roman-Episoden beruhen auf realen Erlebnissen. Das Freibad in Kreuzlingen ist ebenso klar wiederzuerkennen wie die Konstanzer Innenstadt. Wegen persönlicher Erfahrungen hat sich Gysi auch das Kreuzlinger Planetarium als Schauplatz der Buch-Vernissage ausgesucht. „Ich habe in den Ferien mal durch ein Teleskop geschaut. Mein Eindruck war: Als Laie sieht man eigentlich gar nichts.“
Verarbeitet ist das nun im 19. Kurzkapitel: Protagonist Paul sitzt mit anderen Urlaubsgästen in der Kuppel einer kleinen Sternwarte. „Er war enttäuscht von dem kleinen grünlichgelben Fleck auf der Linse, doch die leidenschaftliche Erzählung, die einer der Freunde des Planetariums mitlieferte, fesselte ihn, und er staunte über seine eigene Ahnungslosigkeit.“
Zeit des Aufbruchs
Die unendlichen Weiten des Alls also helfen dem Mann nicht aus seiner Lebenskrise. Paul wendet sich stattdessen immer wieder Gedankenreisen durch die Zeit zu. Am faszinierendsten findet er die Jahrhundertwende. In ihr sieht er eine Zeit des Aufbruchs, wenngleich er einräumt, dass es damals auch durchaus Schattenseiten gegeben hat.
Am Ende ist es eine Lesereise ans Meer, die seinen Aufbruch signalisiert. Ein Sehnsuchtsort auch für Pauls Schöpfer Gysi: „Ich bin im Gebirge in Arosa aufgewachsen, mit Bergen vor der Nase. Das Meer kompensiert das etwas.“
Veränderung als Konstante
Der 69-jährige Schriftsteller hat mit dem Roman seine eigenen Probleme mit dem Älterwerden bearbeitet. „Das war schon so eine Phase“ sagt er und grinst. „Und sie ist noch nicht ganz durch. Ich versuche es entspannt zu nehmen, dass man langsam verschrumpelt.“
Zur Bewältigung habe er es etwas ironisiert. Eine tiefenpsychologische Analyse wollte er nicht vorlegen, stattdessen spricht er im Buch von der „retrograden Pubertät des alternden Menschen“.
Ein neuer Roman ist bereits in Planung
Transformation zieht sich ohnehin durch das Leben von Hans Gysi. Er war Lehrer, Theaterpädagoge, betreibt mit dem „Theaterbureau“ in Märstetten eine der kleinsten Bühnen im Thurgau, ist Schauspieler und Regisseur. Derzeit konzentriert er sich vor allem auf die Schriftstellerei.
Ein nächstes Buch ist schon in Planung: ein Provinzkrimi mit dem Arbeitstitel „Schupisser sieht rot.“ Zwischendrin aber hätte der Autor nichts gegen eine Lesereise einzuwenden – gerne ans Meer, wie sein Alter Ego „Paul“.
Das Buch & eine Leseprobe
Hans Gysi: „Paul geht fort“ ist bei Edition 8 erschienen und kostet 21 Franken.
Ein Auszug aus dem Roman (mit freundlicher Genehmigung des Autors):
„Wenn es einem Schriftsteller nur mit einer halben Seite gelang, dachte Paul, die Leute von einer Erkenntnis zu überzeugen, die ihnen vertraut und doch neu vorkam, dann reichte das oft für eine gute Aufnahme des ganzen Buches. Dass ein Schriftsteller etwas durchdachte und halbwegs durchschaute, gab ihm in den Augen der Leute eine gewisse fundamentale Berechtigung und einen prophetischen Glanz. Ganz unabhängig davon, ob der Schreibende die Erkenntnisse zu einem konsequenten Konzept weiterentwickelte oder vom Lauf der Ereignisse im Buch eingeholt wurde, man war ihm dankbar für das stumme Aha-Erlebnis, das sich da und dort anbot. Oder er breitete Rätselhaftigkeit aus, einen Dunst von Ahnungen. Man wurde gleichsam eingeweiht in den Kreis der Verstehenden und in die Gedanken, die scheinbar neu zusammenflossen. Dennoch, dachte Paul, geben wir uns zu oft mit Halbwahrheiten zufrieden, lassen uns mit dem Wohlklang eines gut formulierten Textes abspeisen. Der Rest der Nachricht ist Rhetorik, die immer neue Nuancen ein und derselben Sache mit bienenhaftem Fleiss reproduziert. Der geneigte Leser staunt über den Wortreichtum und wenn es hoch kommt über die Stimmigkeit der Atmosphäre, doch wird selten eine echte Begegnung mit einem neuen Text möglich. Solche lauwarmen Halbwahrheiten verlangten nicht nach einem originalen Skript oder einem gemeisselten Stil, sie konnte man gut in allgemeines Wortgut verpacken und sie liessen Paul immer etwas fragend zurück.“
Aus Hans Gysi, „Paul geht fort. Facetten eines Aufbruchs.“ S. 24
Von Inka Grabowsky
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