von Anke Klaaßen, 23.07.2025
„Die kleine, missachtete Schwester des Rheins“

Die Spur der Thur (3): Welchen Bezug haben Maler wie Max Bottini, Johann Baptist Isenring und Walter Dick zu dem Fluss, der den Kanton durchströmt? (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
„Man kann durchaus sagen, die Thur ist sowas wie die kleine, missachtete Schwester des Rheins“, meint Markus Landert, Kunsthistoriker, bis 2023 leitete er mehr als 30 Jahre das Kunstmuseum Thurgau. Landert kommt ursprünglich nicht aus dem Thurgau: „Wenn man auch immer ein bischen so von aussen guckt, dann ist es so, dass die Thur ja jetzt nicht unbedingt der wichtigste Fluss der Schweiz ist.“ Dementsprechend gebe es nicht diese grossen Thurerzählungen, die dazu führten, dass man da wirklich einen mythischen Fluss hätte.
Folglich findet man auch nicht so viele Spuren in der Kunst wie bei Bodensee, Rhein und Rheinfall. Auch touristisch sei der Thurgau und mit ihm die Thur lange Zeit nicht von Interesse gewesen. Nichtsdestotrotz gibt es durchaus Künstlerinnen und Künstler, die sich mit der Thur beschäftigt haben und beschäftigen. So war bis Anfang Mai ein ganzer Raum im Kunstmuseum Thurgau für die Thur reserviert.
In vier verschiedenen Episoden hat sich unsere Autorin Anke Klaaßen mit der Thur und ihren Auswirkungen auf das aktuelle Thurgauer Kulturschaffen beschäftigt. Sie folgt ihren Spuren durch, Literatur, bildender Kunst und Fotografie. Die Folgen werden in den nächsten Wochen erscheinen. Alle Beiträge der Serie werden in einem eigenen Themendossier gebündelt.
Die Serie ist entstanden im Rahmen unseres Recherchefonds. Im vergangenen Jahr haben wir diesen Fonds mit Unterstützung der Stiftung für Medienvielfalt Basel und der Crescere Stiftung Thurgau gegründet. Der Fonds ermöglicht aufwändige Recherchen und gibt den Autor:innen die notwendige Zeit und das Geld, um intensiv an einem Thema arbeiten zu können. Mehr zum Recherchefonds gibt es hier.
Malerische Hommage an die Thur
Der in Uesslingen lebende Künstler Max Bottini präsentierte 162 Mal in Öl auf Baumwolle Bilder von der Thur – ein beeindruckendes Mosaik aus stimmungsvollen Thur-Ansichten, das der Künstler als ein einziges Werk versteht. Markus Landert erzählt, dass irgendjemand die Thur einmal wegen ihrer Begradigung „eine grosse Regenrinne genannt hat“. Und - in Hinblick auf Bottinis Ausstellung: „Bottini ist eigentlich der Einzige, der der aus dieser Regenrinne wieder ein schönes, romantisches, ein ästhetisches Ereignis schafft.“
„Für mich war diese Arbeit eine emotionale Geschichte.“, erzählt der Künstler. Geboren und aufgewachsen in Bürglen, verbrachte er seine Kindheit an der Thur, die für ihn ein Abenteuerspielplatz war zum Flossbau, Fischen und Baden. Dass die Thur auch gefährlich sein kann, erfuhr er ebenfalls als Kind, als er beim Spielen einmal fast ertrunken wäre.

Wie eine Metapher für Leben und Tod
Seit 44 Jahren lebt er nun wieder an der Thur in Uesslingen, lässt sich im Sommer auch gerne mal auf dem Rücken die Thur entlang treiben: „Da ist eine Kraft in diesem Fluss die man nicht unterschätzen darf“, meint Bottini.
Für Bottini ist der Fluss an sich auch eine Metapher für Leben und Tod. Nach dem Tod seines Vaters wurde dessen Asche in die Thur gestreut, wie er es sich zu Lebzeiten gewünscht hatte. Ein Ritual, das Bottini sich auch für sich selbst wünschen würde. „Der Fluss hilft auch irgendwie, Tod zu verdauen. Wo die Asche dann schlussendlich endet, ist ja eigentlich egal, sie wird getragen, sie wird sanft getragen von diesem Fluss, das finde ich schön.“
Seinen Bezug zur Thur beschreibt er als „Liebesbeziehung“, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat: „Ich wollte jetzt diesen Fluss nicht missen.“ Bis zur Coronazeit war die Thur nicht in seinem künstlerischen Fokus gewesen, sondern er hatte viele partizipative Kunstprojekte rund um das Thema Lebensmittel initiiert. Damals jedoch fuhr er viel mit dem Rad die Thur entlang, sie war und ist ihm Rückzugspunkt und Therapie zugleich.

Fast wie am Amazonas
Im März 2022 hatte er dann die Idee, dem Fluss eine malerische Hommage zu widmen. Es folgten regelmässige Besuche der Thur zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten und dabei entstanden fotografische Porträts des Flusses von vier Brücken (Uesslingen, Feldemer Steg, Altikon und Gütighausen).
In dieser Zeit lernte Bottini viele weitere Facetten der Thur kennen, zum Beispiel bei Hochwasser: „Da kann man auf der Brücke stehen, man spürt die Vibrationen, dann kommt es einem so vor, als wäre man am Amazonas .“ Oder in Zeiten der Dürre, als tote Fische im Flussbett lagen.
Aus mehr als 3000 Fotografien wurden 162 Bilder
Aus diesen 3000 Fotografien über drei Jahre entwickelte Bottini die 162 Bilder, ein Tagesfoto bildete die Grundlage für die malerische Umsetzung, jeweils mit Betonung der Zentralperspektive. Über das „Wie“ der Darstellung habe er sich gar nicht so viele Gedanken gemacht: „Ich hab‘ einfach losgelassen“. Er habe Bilder von einem Fluss machen wollen, der eigentlich nie im Zentrum der Malerei stand.
Die Bilder ordnete er für die Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau dann chronologisch, sie waren an einer Wand zusammen aufgehängt. Von einem bequemen Sofa aus konnte man dann alle auf einen Blick betrachten: Sonnenuntergänge, der Fluss in allen Jahreszeiten, Himmelsstimmungen, Nebelzauber: So vielseitig sich da die vermeintlich langweilige Thur zeigt, ist auch die künstlerische Darstellung. Markus Landert sieht in dieser Vielfalt auch eine Art Verbildlichung von Heraklits Aussage: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“

Freude über Renaturierung
Menschen oder Tiere hat Bottini bewusst nicht gemalt – nur einmal ist sein eigener Schatten verewigt. Beobachtet habe er sie jedoch schon – unter anderem fällt ihm auf, dass die Renaturierung an einigen Stellen schon positive Folgen zeigt: Da flattern wieder Libellen, er sah Unken und Bodenbrüter, Kammmolche, Feuersalamander und Eisvögel. Darüber freut sich Bottini und hofft, dass das „Konzept Thur3“ gelingt und die partikolaren Interessen Kompromisse finden können.
Das Konzept Thur3 ist das Hochwasserschutz- und Revitalisierungskonzept für das Thurtal von Seiten des Kantons – angelegt als Generationenprojekt. Bottini hofft, dass die Thur somit mehr naturnahen Raum bekommen kann: „Ich freue mich, wenn der Fluss wieder seinen Namen verdient“, so Bottini. „Ich hätte gern noch ein paar Bögen drin, auch damit sie spielen kann mit ihren Möglichkeiten.“
Die Thur durchströmt den Kanton Thurgau von Südosten nach Nordwesten. Doch wann und wo ist sie „geboren“? Seit wann genau es die Thur gibt, ist nicht ganz klar zu sagen – vielleicht gab es eine Vorgängerin der Thur schon vor fünf oder vier Millionen Jahren, die Thur entstand über einen grossen Zeitraum und mit ihrer Entstehung wandelte sich auch ihr Verlauf. Das heutige Thurtal formte sich mit dem Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit, vor 10 bis 15 000 Jahren.
Als Geburtsort – da könnte man ihre Quelle nennen. Die Thurquelle befindet sich am Chalbersäntis oberhalb von Unterwasser im Toggenburg. Die junge Thur springt über zwei Wasserfälle, die Thurfälle im Cämmerlitobel, bei Unterwasser fliesst sie dann mit der Wildhauser Thur zusammen. 72,6 Kilometer strömt die Thur dann durch den Kanton St. Gallen, im Toggenburger Quellgebiet ist sie ein richtiger Wildbach, schlängelt sich durch enge Täler.
Bis Kradolf fliesst der Fluss noch auf felsigem Untergrund, dann löst Kies die Felsen ab und gleichzeitig weitet sich das Tal. 45,6 Kilometer fliesst die Thur durch den Thurgau, 22 Kilometer im Kanton Zürich, wo sie bei Flaach in den Rhein mündet. Mit einer Gesamtlänge von 134,6 Kilometern ist sie nach dem Rhein der zweitlängste Fluss der Ostschweiz. Von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein wird die Thur nirgends von einem See gebändigt. Das Einzugsgebiet der Thur über ihre Neben- und Zuflüsse erstreckt sich über 1760 km². Zum Vergleich: Der Thurgau ist 991km² groß.
Im Thurgauerlied heisst es noch „O Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst“ – tatsächlich hat sich die Thur über die Jahrhunderte ein Tal geschaffen, das teilweise 2,5 Kilometer breit ist. Lange Zeit nutzte die Thur die ganze Breite dieses Tal, in Mäandern wand sich der Strom über die Ebene, umwachsen von Auenwäldern, mit Kiesbänken und Stillwassern. Regelmässig überflutete die Thur das gesamte Tal, so dass die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens rund um die Thur schwierig war und Siedlungen zunächst an den geschützten Hügeln entstanden.
Zum Hochwasserschutz und der Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen wurde die Thur dann im 19. Jahrhundert kanalisiert und bekam ihr erstes künstliches Bett von 45 Metern Breite. Bald folgten Hochwasserdämme und Binnenkanäle – von einem sich windenden Fluss kann seitdem im Thurgau nicht mehr wirklich gesprochen werden – vielmehr durchfliesst die Thur den Kanton zu grossen Teilen schnurgerade. Doch obwohl viele Korrekturen folgten, ist die Thur nicht gezähmt, sondern durchbrach immer wieder die Dämme.
Inzwischen darf sich die Thur an einigen Stellen wieder winden – im Kanton Zürich wurde sie auf ihren letzten fünf Kilometern komplett aus dem menschgemachten Korsett befreit, dort entstanden neue Lebensräume für seltene Tiere und Pflanzen. Wertvolle Auenwälder und Flusslandschaften und damit zahlreiche Pflanzen- und Tierarten waren mit den Korrekturen verloren gegangen. Auch um diese teilweise zurückzuholen, wurde im Thurgau ein Hochwasserschutz- und Revitalisierungskonzept für die Thur gestartet: Thur3. Ziel ist der Hochwasserschutz, eine Stabilisierung der Sohlenlage und eine ökologische Aufwertung, was mehr Freiraum für die Thur bedeutet. Das Konzept ist als Generationenprojekt für die nächsten 30 Jahre angelegt.
Thurgegenden in Aquatinta
Schon 1825 bis 1827 veröffentlichte der Schweizer Landschaftsmaler Johann Baptist Isenring (1796-1860) im Selbstverlag die aus 20 Blättern bestehende Aquatintaserie „Thurgegenden“. Zuvor hatte er eine Tischlerlehre in Zürich absolviert, wanderte nach Wien und München, als Flachmaler und Vergolder arbeitend und studierte dann an der Münchner Kunstakademie Landschaftsmalerei und Aquatinta, ein spezielles Verfahren der künstlerischen Druckgrafik.
Nach seiner Rückkehr nach St.Gallen entstanden dann die „Thurgegenden“. Die romantisch anmutenden Flusslandschaften ergänzt Isenring mit Erklärungen zur Naturgeschichte, Geschichte und Geographie. Ein Werk, das mit ganz anderen Umständen als heute verbunden gewesen sein muss: Isenring war zu Fuss oder mit Pferde und Fuhrwerk unterwegs und dem Wetter vielfach ausgeliefert.
Isenring war der erste Schweizer Daguerrotypist und somit auch erster Schweizer Fotograf, von ihm stammt die älteste Fotografie Zürichs - jedoch gelten seine Bilder fast alle als verschollen. Ob es also von ihm auch Fotografien von der Thur gab, ist nicht bekannt. 1997 veröffentlichte der Autor und Fotograf H.W.Salathé den Foto- und Textband „Der Thur auf der Spur“, in dem er Isenrings Thuransichten auf eigene Texte und Fotografien von der Thur treffen lässt – eine spannende Gegenüberstellung.


Die Thur als Lebensraum
Vor 40 Jahren hatte der Landschaftsmaler Walter Dick drei Bildbände veröffentlicht, in denen die Thur im Zentrum steht: „Thur – schöner Heimatfluss“ (zusammen mit Dino Larese) „Streifzüge an der Thur 1“ (1984) und „Erlebnisraum Thur“ (1988). Dick hatte ursprünglich Käser gelernt, daneben aber als Autodidakt passioniert gezeichnet, bis er 1987 wagte, sein Hobby zum Beruf zu machen und seitdem als professioneller Kunstmaler arbeitet.
„Ich zeichne nie Menschen, aber bei mir sind das Lebensräume“, erzählt Dick. Und so sind auch bei seinen Zeichnungen von der Thur die Menschen zu spüren. Während er die Skizzen dafür in freier Natur anfertigt, spricht Dick viel mit Passanten: „Das ist dann auch sehr spannend, so ein angenehmer Teil des künstlerischen Schaffens.“
Die meisten seiner Werke von der Thur sind Tuschefederzeichnungen, die Zeichentechnik, die sich zu seiner bevorzugten entwickelt habe: „Das ist so eine Spielerei zwischen Tusche, Strich und Feder. Das ist so mein Anliegen, das immer wieder neu zu modellieren, neue Ideen zu kreieren damit.“
Im Spannungsfeld von Mensch und Natur
Die beiden Bildbände aus den 80er Jahren zeigen detailreiche Zeichnungen von einer idyllisch anmutenden Thurlandschaft, aber auch aus den umliegenden Siedlungen, Kultur- und Naturräumen. Daneben beinhalten sie Texte von unterschiedlichen Autor:innen aus drei Jahrhunderten. In den Texten wird auch das Thema der Thurkorrektionen zur Sprache gebracht und damit das Spannungsfeld von Mensch und Natur, in dem die Thur noch heute steht. Zu lesen ist auch von Lachsen, die weit die Thur hinaufwanderten – heute ist der Lachs längst aus der Thur verschwunden und man bemüht sich um eine Wiederansiedelung.
Aufgewachsen ist Dick in Amriswil, er kam jedoch mit 16 ins untere Toggenburg und damit an die Thur: „Da ging man in die Thur baden.“ Von einer Holzbrücke konnte man direkt ins Wasser springen. Über 50 Jahre lebte er in Tufertschwil, wo auch seine vier Kinder gross wurden, dann ging es weiter nach Frauenfeld und seit drei Monaten wohnt er wieder in Wil, ebenfalls an der Thur. Dort geht er auch gerne am Fluss – allerdings nie ohne Zeichenblatt: „Dann hat das ganze einen Sinn, ich geniesse diese Landschaft, man ist zuhause.“
Weiterlesen: Literaturtipps zur Vertiefung
„Thurgegenden“ – Eine Sammlung malerischer Landschaften an und in der Nähe der Thur von J. B.Isenring, Faksimiledruck, Paulus Verlag, Appenzell 1985 – Original um 1825.
„Der Thur auf der Spur“,von H.B. Salathé, Monbijou-Verlag, 1997.

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