von Anke Klaaßen, 14.07.2025
Die Thur schreibt mit

Die Spur der Thur (2): Wie beeinflusst die Thur die Literatur? Eine Recherchereise zu Dichter:innen von gestern und heute. (Lesedauer: ca. 8 Minuten)
In früheren, brückenlosen Zeiten war die Thur manchmal noch eine wirkliche, schwer überwindbare Grenze gewesen, wovon mehrere Sagen erzählen: Aus Bischofszell kennt man die Sage von einer Witwe – ihre Söhne kommen bei einer Flussquerung über die hochwasserführende Thur ums Leben.
Damit keine Mutter mehr ein solches Leid erfahren soll, stiftet sie eine steinerne, zollfreie Brücke – noch heute zu betrachten als „Krumme Brücke“ und lyrisch verewigt in einem Gedicht des deutschen Dichters Gustav Schwab (1792-1850): „Wer hat diesen steinernen Bogen/ über die wilde Thur gezogen?/Daß der Wandrer die Straße lobet,/ Daß das Wasser vergeblich tobet?“ so lautet die erste Strophe.
Sagen von der Thur
Auch den aus Weinfelden stammenden Schriftsteller Hans Thomas Bornhauser (1799-1856) inspirierte die Sage zu einem Gedicht: „Die Brücke“. Von einer bequemen Möglichkeit, die Thur zu überqueren, erzählt eine Sage aus Kradolf: Über Kradolf soll es mal eine Burg gegeben haben, die durch einen Gang unter der Thur mit der gegenüberliegenden Burg Schönenberg verbunden war.
Eine weitere Sage über die hochwasserführende Thur rankt sich um den Thurgauer Riesen Einheer. Er sei ohne Schwanken durch die angeschwollene Thur gewatet, sein Pferd hinterhertragend und rief dabei: „Beim hl. Gallus, ob du willst oder nicht, so musst du doch hinüber!"

„O Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst“
Ein liebliches Bild von der Thur zeichnet hingegen der Weinfelder Dichter Johann Ulrich Bornhauser nicht nur im Thurgauerlied: „O Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst“, sondern auch im Weinfelder Lied. Bornhauser, der schon im frühen Alter von 23 Jahren im Jahr 1848 an Tuberkulose verstarb, schrieb hier in der ersten Strophe über die Thur: „Lieblich fliesst durch grüne Auen/hin ein sanft bewegter Fluss/will den schönen Flecken schauen/eilt vorbei mit leisem Kuss.“
Autor, Lehrer und Kulturvermittler Dino Larese (1914-2001), der aus dem kleinen, beschaulichen Amriswil durch seine Akademie ein „Weltdorf“ machte, widmete der Thur ein kleines Büchlein „Thur, schöner Heimatfluss“ (1980), mit Zeichnungen von Walter Dick: Hier können Lesende sich von der Begeisterung des Autors für den Fluss samt Heimat und Bevölkerung mitreißen lassen.
Rilke und die Thur
Ein berühmter Dichter, der an der Thur vielleicht auch Inspiration fand, aber auf jeden Fall an ihr entlang wanderte, ist der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke (1875-1926). Er lebte zeitweise in Berg am Irchel, als er einen Wohnort in der Schweiz suchte, um dort seine Duineser Elegien zu vollenden – und spazierte die Thur entlang, wie er in einem Brief 1921 an Nanny Wunderly-Volkart schrieb: „ich war durchs Gehölz, bis an der Thur-Brücke und am Wiesenrand ein Stück Thur entlang, eben jetzt nach Tisch.“
Der in Frauenfeld wohnende Schriftsteller und Verleger Beat Brechbühl schrieb acht Jahre nach Lareses Büchlein das Gedicht „Thur Auen & Amen oder was?“ (1988), und beklagt darin die Begradigung der Thur: „Wer hat diesem Wasserband die Heimat genommen“ fragt er und einige Strophen weiter sucht er „nach dem Fluss, der einst sein Leben hatte; Launen, Verderben, Glück wie ein Mensch.“

Die Thur durchströmt den Kanton Thurgau von Südosten nach Nordwesten. Doch wann und wo ist sie „geboren“? Seit wann genau es die Thur gibt, ist nicht ganz klar zu sagen – vielleicht gab es eine Vorgängerin der Thur schon vor fünf oder vier Millionen Jahren, die Thur entstand über einen grossen Zeitraum und mit ihrer Entstehung wandelte sich auch ihr Verlauf. Das heutige Thurtal formte sich mit dem Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit, vor 10 bis 15 000 Jahren.
Als Geburtsort – da könnte man ihre Quelle nennen. Die Thurquelle befindet sich am Chalbersäntis oberhalb von Unterwasser im Toggenburg. Die junge Thur springt über zwei Wasserfälle, die Thurfälle im Cämmerlitobel, bei Unterwasser fliesst sie dann mit der Wildhauser Thur zusammen. 72,6 km strömt die Thur dann durch den Kanton St. Gallen, im Toggenburger Quellgebiet ist sie ein richtiger Wildbach, schlängelt sich durch enge Täler.
Bis Kradolf fliesst der Fluss noch auf felsigem Untergrund, dann löst Kies die Felsen ab und gleichzeitig weitet sich das Tal. 45,6 km fliesst die Thur durch das Thurgau, 22 km im Kanton Zürich, wo sie bei Flaach in den Rhein mündet. Mit einer Gesamtlänge von 134,6 Kilometern ist sie nach dem Rhein der zweitlängste Fluss der Ostschweiz. Von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein wird die Thur nirgends von einem See gebändigt. Das Einzugsgebiet der Thur über ihre Neben- und Zuflüsse erstreckt sich über 1760 km². Zum Vergleich: Der Thurgau ist 991km² groß.
Im Thurgauerlied heisst es noch „O Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst“ – tatsächlich hat sich die Thur über die Jahrhunderte ein Tal geschaffen, das teilweise 2,5 km breit ist. Lange Zeit nutzte die Thur die ganze Breite dieses Tal, in Mäandern wand sich der Strom über die Ebene, umwachsen von Auenwäldern, mit Kiesbänken und Stillwassern. Regelmässig überflutete die Thur das gesamte Tal, so dass die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens rund um die Thur schwierig war und Siedlungen zunächst an den geschützten Hügeln entstanden.
Zum Hochwasserschutz und der Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen wurde die Thur dann im 19. Jahrhundert kanalisiert und bekam ihr erstes künstliches Bett von 45 Metern Breite. Bald folgten Hochwasserdämme und Binnenkanäle – von einem sich windenden Fluss kann seitdem im Thurgau nicht mehr wirklich gesprochen werden – vielmehr durchfliesst die Thur den Kanton zu grossen Teilen schnurgerade. Doch obwohl viele Korrekturen folgten, ist die Thur nicht gezähmt, sondern durchbrach immer wieder die Dämme.
Inzwischen darf sich die Thur an einigen Stellen wieder winden – im Kanton Zürich wurde sie auf ihren letzten fünf Kilometern komplett aus dem menschgemachten Korsett befreit, dort entstanden neue Lebensräume für seltene Tiere und Pflanzen. Wertvolle Auenwälder und Flusslandschaften und damit zahlreiche Pflanzen- und Tierarten waren mit den Korrekturen verloren gegangen. Auch um diese teilweise zurückzuholen, wurde im Thurgau ein Hochwasserschutz- und Revitalisierungskonzept für die Thur gestartet: Thur3. Ziel ist der Hochwasserschutz, eine Stabilisierung der Sohlenlage und eine ökologische Aufwertung, was mehr Freiraum für die Thur bedeutet. Das Konzept ist als Generationenprojekt für die nächsten 30 Jahre angelegt.
Flussüberquerung als Bild für Solidarität
Heute, 100 Jahre später, geht auch die ursprünglich aus Zürich stammende Autorin Michèle Minelli wie einst Rilke an der Thur spazieren. Sie lebt zusammen mit dem Schriftsteller Peter Höner seit zehn Jahren in Iselisberg – von ihrem Arbeitszimmer wandert ihr Blick meistens nach unten auf die Thur. An der Thur lasse sich das Wetter ablesen, manchmal sei sie braun, manchmal habe sie so viel Wasser, dass sich drei parallele Flüsse bilden: „Das ist beeindruckend.“
Die Thur findet sich unter anderem als Lokalisierung der Handlung in ihrem Roman „All das Schöne: Die Geschichte von Jakob und Elisa.“ Eine bedeutende Rolle spielt sie in ihrem neuen Jugendbuch „Keiner bleibt zurück“ (2025). Der Auenwald, in dem Eingangs- und Ausgangsszene spielen, wird zwar namentlich nicht genannt, Vorbild ist jedoch das Gebiet um die Thurauen: „Da war ich auch unten recherchieren, einfach, um mir das vorzustellen: Wo könnte man sowas machen und wie würde das funktionieren?“
Das Buch hat als Kernthema SoIidarität: „Diese Schülerinnen und Schüler, die kommen im 7. Schuljahr zusammen und der Lehrer geht mit ihnen an eine Flussüberquerung und niemand darf nass werden.“ So lässt sich die Thurquerung in Minellis Buch metaphorisch lesen für die Herausforderung, die die Schüler zusammen bewältigen. In der Schlussszene steht das Gewässer in seiner Veränderlichkeit auch bildhaft für die Veränderungen, die das Leben für die Jugendlichen bereithält, denn bei der zweiten Flussquerung hat sich auch der Fluss verwandelt und die Jugendlichen müssen einen neuen Weg suchen, um ihn überqueren zu können.
Ein Fluss als Metapher für die Entwicklung junger Menschen
Auch das Mäandern des Flusses, der sich in den Auen frei seinen Weg suchen darf, leuchtet als Metapher für die Entwicklung der Jugendlichen, die von ihrem Lehrer die Aufforderung bekommen, etwas zu tun, das sie glücklich macht - aber nicht, dass sie etwas werden müssen. Die Flussüberquerung findet ausserhalb des Naturschutzgebietes statt, das war Minelli wichtig, denn die Thurauen selbst sind geschützt und eine solche Aktion nicht möglich.
Über das Metaphorische hinaus bringt die Autorin, ganz ohne erhobenen Zeigefinger, aus der überzeugenden Perspektive der Jugendlichen ökologische Themen zur Sprache, die die aktuelle Entwicklung der Thur widerspiegeln: Der Einfluss des Klimawandels, die Rückkehr des Bibers, die Schaffung neuer Lebensräume für Brotvogelarten wie Eisvogel und Flussregenpfeifer.
In vier verschiedenen Episoden hat sich unsere Autorin Anke Klaaßen mit der Thur und ihren Auswirkungen auf das aktuelle Thurgauer Kulturschaffen beschäftigt. Sie folgt ihren Spuren durch, Literatur, bildender Kunst und Fotografie. Die Folgen werden in den nächsten Wochen erscheinen. Alle Beiträge der Serie werden in einem eigenen Themendossier gebündelt.
Die Serie ist entstanden im Rahmen unseres Recherchefonds. Im vergangenen Jahr haben wir diesen Fonds mit Unterstützung der Stiftung für Medienvielfalt Basel und der Crescere Stiftung Thurgau gegründet. Der Fonds ermöglicht aufwändige Recherchen und gibt den Autor:innen die notwendige Zeit und das Geld, um intensiv an einem Thema arbeiten zu können. Mehr zum Recherchefonds gibt es hier.
Kriminalfälle lösen mit der Thur
Von den Tierarten, die an renaturierten Stellen an die Thur zurückkehren, erzählt im Gespräch auch Schriftsteller Peter Höner, der mit Michèlle Minelli zusammen auf dem Iselisberg lebt und mit ihr Schreibseminare anbietet. Der Autor blickt schon seit 20 Jahren auf die Thur hinunter.
In seinem Krimi „Kenia Leak“ (2017), dem fünften Band seines Ermittlerduos Mettler/Tetu, sitzen die beiden Ermittler auf einer Bank unter dem Nussbaum und sehen auf die Thur – eine Bank, die tatsächlich in Minellis und Höners Garten steht: „Da hat mich die Thur sehr inspiriert, aber auch der Blick, den man übers Thurtal hat.“, erzählt Höner.
Das Ermittlerduo besteht aus einem Schweizer Privatdetektiv und einem Kommissar aus Afrika und eben jener kommt mit einer Augenkrankheit zur Behandlung in die Schweiz: „Hier kann er nach langer Zeit wieder sehen. Das erste, das er sieht, ist die Thur“, so Höner.

Warum die Gefährlichkeit der Thur menschengemacht ist
„Die Thur hat ja die Spezialität, dass sie fast in den Bodensee fliesst, einen Riesenbogen macht und dann doch in den Rhein mündet. Sie hat nie mal ein Becken, einen See, wo sie sich mal beruhigen könnte. Und deswegen ist sie auch sehr gefährlich,“ so Höner. Der Autor Höner weiss viel über die Geschichte der Thur, über die Konflikte zwischen Naturschützern und Landbesitzern und wünscht ihr: „Man muss ihr ihre Wesensart, ihr Ungestüm auch wieder zurückgeben, weil diese Begradigung die Thur nicht ungefährlicher macht. Davon bekommt das Wasser nämlich einen unglaublichen Zug.“
Ein häufiger Fehler der Menschen, so Höner: Wenn der Mensch eingreift, müsse er es im Nachhinein wieder korrigieren. Für Höner selbst habe die Thur, das Leben in einer Flusslandschaft etwas Beruhigendes und er findet es spannend, den Fluss zu beobachten. Und diese Beobachtungen würden auch ins Schreiben einfließen.
Zsuzsanna Gahse und die Flüsse
Flüsse spielen schon immer eine grosse Rolle in Leben und Werk der Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse: Die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte die heute 78-Jährige in Budapest, mit Blick auf die Donau: „Das war so die erste ganz grosse Flussverbindung“. Dann lebte sie in Stuttgart, da war es der Neckar und seit 25 Jahren wohnt sie nun in Müllheim – hier ist es die Thur.
Müllheim liege zwar nicht direkt an der Thur, aber eben ganz in der Nähe und ist Gahse auch durch zahlreiche Spaziergänge sehr vertraut – ihr erstes Buch, das sie in Müllheim geschrieben hat, nannte Gahse dann auch „Durch und durch“ und als Untertitel „Müllheim Thur“.
Für die Autorin ist die Umgebung, die Gegend, in denen ihre Texte spielen, immer sehr wichtig. Die Thur und andere Flüsse hätten in ihren Büchern die Rolle einer „Lokalisierung. Als ein topographisches Näherkommen zur Landschaft. Also das ist so, als würde ich auf eine Landkarte eine Nadel stecken, damit ich gut hinfinde.“

Ein Fluss mit einer tollen Gestalt
Auch wenn die Autorin Richtung Frauenfeld fährt, denkt sie viel an die Thur, weil man hier die Ebene sieht, die sich der Fluss geschaffen hat: „Und die Thur gefällt mir wirklich sehr gut und sie ist weder zu gross noch zu klein, sie hat so eine tolle Gestalt, das interessiert mich nach wie vor“. Wobei sich Zsuzsanna Gahse schon für die Thur wünscht, „dass sie sich ein bischen ausbreiten kann“.
Grosses Interesse hat die Autorin auch für die Namensherkunft der Thur: In „Bleib doch – komm wieder. Thurgauer Lesebuch“ (2021), einer Anthologie von Thurgauer AutorInnen, schrieb Gahse einen Text, mit dem sie sich im Thurgau und in Beziehung zu seinen Flüssen verortet – auch hier spielt die Thur und wie sie zu ihrem Namen kam eine Rolle.
Wie Etymologen auf die Thur blicken
Von einem Etymologen weiss die Autorin, dass die Basken, die nach der Eiszeit in Europa umherzogen, Flüsse, deren Quelle aus den Flanken der Berge zuckt, mit „Turi“ benannten. Auch im Elsass gebe es eine „la tur“ und in den Karpaten ebenso Flüsse mit ähnlichen Quellsituationen.
Befragt man andere Quellen, gibt es auch den Hinweis auf die Wortherkunft auf das keltische Wort „Dura“ oder „duria“, was Flusslauf bedeutet, Wurzeln lägen dann schon beim indogermanischen Wort „dheu“ (laufen, eilen). Péter Esterházy sprach immer von den „talentierten Flüssen“, die so vieles können – und als einen solchen sieht Zsuzsanna Gahse auch die Thur.
Zu Teil Eins der Serie: Eine Einführung in die Spur der Thur in unserer Kultur.

Literaturtipps zum Weiterlesen
„All das Schöne: Die Geschichte von Jakob und Elisa“ von Michèlle Minelli, Verlag Saatgut, 2024.

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