von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 26.11.2024
Raus aus der Bubble, rein ins Leben
Schwerpunkt Räume: Kulturzentren müssen heute offen sein für andere Nutzungen. Nur so erreichen sie Menschen jenseits der Kultur-Bubble. Wie das geht, zeigen zwei Beispiele aus Dänemark. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wenn es ein Ort schafft, auch zehn Jahre nach seiner Eröffnung immer noch als stilprägend und vorbildlich zu gelten, dann kann dieser Ort nicht allzu viel falsch gemacht haben. Deshalb landet jede:r, der nach herausragenden und beispielhaften Projekten für die Gestaltung von kulturellen Räumen sucht, früher oder später in Aarhus.
In der zweitgrössten Stadt Dänemarks wurde 2015 das Dokk1 eröffnet. Der Name ist angelehnt an die alten Docks am Hafen, denn dort steht dieses besondere Haus. Eigentlich der Funktion nach eine öffentliche Bibliothek, aber von seinen Nutzungsmöglichkeiten ist es viel mehr - ein Gemeinschaftszentrum für die ganze Stadt. Die Menschen sollen hier im Mittelpunkt stehen, nicht die Bücher. Ein Beispiel, das diese Haltung untermauert: Wenn in Aarhus ein Kind geboren wird, ertönt im Dokk1 eine Glocke.
Die Verschmelzung von Kulturzentrum, Bibliothek, Abenteuerspielplatz und Volkshochschule
Bücher gibt es hier schon auch. Aber vor allem Sofas, Sitzecken, Spielzeug und viel Platz um Dinge auszuprobieren. Draussen bietet das Gelände liebevoll gestaltete Spielplätze und immer wieder diesen grossartigen Blick auf den Hafen und das Meer. Rund 100 Millionen Franken hat sich die Stadt das Gebäude kosten lassen. Es gibt regelmässig Kulturveranstaltungen, Workshops, Reparatur-Cafés. Auch Behördengänge kann man hier erledigen. Zum Beispiel, einen neuen Pass beantragen.
Im Prinzip ist das Dokk1 die überlebensgrosse Verschmelzung von Kulturzentrum, Bibliothek, Abenteuerspielplatz und Volkshochschule. Die Hälfte der 18 000 Quadratmeter Bibliotheksfläche steht als unverplanter Raum zur Verfügung. Gruppen können kostenlos abgetrennte Bereiche mieten. Durch die Mitte des Gebäudes führt eine gewaltige Rampe hinauf zu Panoramafenstern mit Meerblick. Nur wenige Schritte entfernt sind Bolz- und Basketballplätze. Hier kommen wirklich fast alle möglichen Freizeitaktivitäten zusammen.
In den kommenden Wochen beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Räume. In mehreren Beiträgen beleuchten wir im Magazin verschiedene Aspekte des Themas. Alle Texte werden wir in einem Dossier bündeln. Aber dabei bleibt es nicht. Wir wollen darüber auch diskutieren. Dazu haben wir ein neues Veranstaltungsformat entwickelt. Es heisst „Kultur trifft Politik!. Wir sind überzeugt: Probleme kann man nur lösen, wenn man miteinander im Gespräch bleibt.
Deshalb nutzen wir das Thema „Räume“ um Kulturschaffende und Politiker:innen in den Dialog zu bringen. Was sind die Herausforderungen auf Seiten der Künstler:innen? Woran mangelt es aus ihrer Sicht? Welche Möglichkeiten haben Politiker:innen überhaupt auf diesen Mangel zu reagieren? Wo genau könnten sie ansetzen, um die Situation zu verändern? Und wo sind vielleicht auch Politiker:innen die Hände gebunden?
Darüber wollen wir reden. Am Mittwoch, 27. November, ab 18:30 Uhr, im Apollo Kreuzlingen. Wir diskutieren darüber mit Isabelle Krieg (bildende Künstlerin), Christoph Luchsinger (Musiker), Gino Rusch (KAFF Frauenfeld), Samuel Svec (IG Probelokal Amriswil), Stephan Tobler (SVP-Kantonsrat), Petra Stoios (Stadträtin für Kultur Amriswil), Andreas Netzle (Ex-Stadtpräsident Kreuzlingen und heute Präsident der Jugendmusik Kreuzlingen sowie Peter Surber (IG Kultur Ost).
„Kultur trifft Politik!“ ist aber keine klassische Podiumsdiskussion. Du kannst dich aktiv einbringen. In Workshops arbeiten Kulturschaffende, Politiker:innen und Publikum gemeinsam an Lösungen für die drängenden Raumprobleme. Ziel des Abends ist es, konstruktive Ideen zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Raumnot beitragen. Hast du auch Lust mitzudenken? Dann melde dich jetzt an. Die Veranstaltung ist kostenlos, aber deine Anmeldung hilft uns dabei, den Abend besser planen zu können.
Die Rolle der Architektur
Die FAZ schwärmte erst im April dieses Jahres über das Haus: „Die Architektur des Baus raubt einem den Atem. Ständig verändert er den Charakter. Plötzlich verlässt man den heimeligen Bereich, für den Dänemark weltweit den Begriff "hygge" patentiert hat, und andere Perspektiven zeigen die ultramoderne Seite dieses Ortes, die luftigen Höhen und futuristischen Formen, vor denen die Menschen plötzlich ganz klein werden. Offenbar sollen sie beides sein: klein und gross. Weil sie beides sind, demütige Benutzer und kühne Gestalter.“ Wer einmal dort war, der spürt sofort, dass dies ein sehr besonderer Ort ist.
Trine Berthold vom verantwortlichen Architekturbüro Schmidt, Hammer, Lassen (SHL) erklärt, warum das so ist und verweist auf die Grundpfeiler des zeitgemässen dänischen Bauens: „Offenheit und Gleichheit: Jeder soll sich willkommen fühlen.“ Genau das passiert im Dokk1. Es funktioniert eben nicht nur als Bibliothek, sondern auch als Ort des Bürgerservices, der Begegnung und der Freude. All die Dinge, die der Soziologe Ray Oldenburg 1989 als Merkmale für einen „dritten Ort“ nannte. Dies waren für ihn Orte, die als Ausgleich und nachbarschaftlicher Kommunikationsraum neben dem ersten Ort der Arbeit und dem zweiten Ort der Familie, liegen.
Begegnungen ohne Konsumzwang
Genauso müssen Kulturzentren heute gebaut werden, wenn sie nicht als elitäre Paläste wahrgenommen werden wollen. Niederschwelligkeit ist wichtig, Nahbarkeit ist essentiell und es muss Angebote geben, die jede und jeden früher oder später mal in das Haus bringen. Das hilft der Kultur, weil sie sich aus der gewohnten Bubble heraus bewegt und es hilft den Menschen und der Gesellschaft, weil Begegnung unkompliziert und ohne Konsumzwang möglich werden.
Das haben sie auch nur gute 120 Kilometer nördlich von Aarhus verstanden. Das Kulturzentrum Nordkraft in Aalborg, hoch im dänischen Norden, ist auch eine Erfolgsgeschichte. 2009 wurde das Kulturzentrum mit vier Theatersälen, Kunstausstellungen, Kino und Gaststätten eröffnet. In einem ehemaligen Energiewerk, das die Stadt umgenutzt hat. Obwohl die Gemeinde mit einer Umwandlung des riesigen Gebäudes in Wohn- und Shoppingflächen mehr verdient hätte, entschieden sich die lokalen Politiker:innen anders.
Vom Energiewerk zum Kulturzentrum
Sie sanierten, renovierten und modernisierten das alte Gebäude, um der Kultur ihrer Stadt eine neue Heimat zu geben. Die Umwandlung erzählt eine eindrucksvolle Geschichte - vom alten Energiewerk zum neuen Kraftzentrum der kulturellen Aktivitäten der Stadt. Das Narrativ stimmte schon mal. Dafür investierten sie rund 60 Millionen Franken.
Wand an Wand mit dem früheren 13-stöckigen Turbinenturm aus rotem Klinker entstand zudem die neue Universitätsbibliothek. Heute ist Nordkraft ein inspirierender und lebendiger Ort. Mitten im Gebäude gibt es einen grossen Sandkasten, das von Familien und Kindern oft auch als Riesen-Indoor-Spielplatz genutzt wird. Angesichts der fiesen und dunklen dänischen Wintern ist das sicher nicht die schlechteste Idee gewesen.
Den künstlerischen Prozess gesamthaft denken
Die Idee, dass Kulturzentren heute mehr sein müssen als Orte, an denen kulturelle Aufführungen stattfinden, ist heute fast schon eine Binsenwahrheit. Europaweit gibt es vergleichbare Projekte wie das La Friche la Belle de Mai in Marseille, das Southbank Centre in London oder das Kaapelitehdas (Cable Factory) in Helsinki.
Auch die Bauherren einer neuen Event-Location in Zürich, das X-Tra soll hier unter anderem einziehen, betonen wie selbstverständlich, dass neben einer Konzerthalle mit Platz für bis zu 3000 Personen auch Proberäume und Ateliers für Kulturschaffende entstehen sollen. Das zeigt: Der künstlerische Prozess wird auch in der Architektur der Gebäude immer gesamthafter gedacht. Nicht mehr nur das Bühnenergebnis zählt, sondern auch all das, was dahin führt.
Was Projekte im Thurgau davon lernen können
Davon können auch Projekte im Thurgau lernen. Wobei: Im Kleinen finden sich diese Ideen bereits hier. So ist es kein Zufall, dass im Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X auch die Ludothek beheimatet ist, die Menschen ins Haus bringen, die zu Veranstaltungen vielleicht nicht automatisch kommen würden. Auch in den Plänen zum Themenhaus Werk Zwei in Arbon spielen Proberäume und Ateliers eine Rolle. Dort ist die Eröffnung zwar in weite Ferne gerückt (erst 2037), trotzdem bleibt die Idee ja richtig, um den Ort zu bespielen und lebendig zu gestalten.
Als Leitstern bei der weiteren Entwicklung kann auch hier ein Satz dienen, den Knud Schulz, der Gründer des dänischen Dokk1, geprägt hat: „Eine Bibliothek muss heute etwas bieten, was im Netz nicht zu finden ist, sonst hat sie keinen Sinn mehr.“
Was für Bibliotheken gilt, gilt mindestens genauso für Kulturzentren.
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