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von Bettina Schnerr, 27.10.2021

Ein Ort für den Austausch

Ein Ort für den Austausch
Gelungene Rettung vor der Abrisssbirne: Das Ermatinger Schlösschen Breitenstein (hier von der Südseite aus gesehen) wurde dank eines visionären Engagements zum beliebten Seminar- und Kulturort im Thurgau. | © Stefanie Koemeda

Das Ermatinger Schlösschen Breitenstein hat in den letzten vierzig Jahren viele Formate unter seinem Dach vereint. Mit einem neuen Buch erinnern die Initiator:innen jetzt daran. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Die Anfänge der Karriere von Breitenstein zu einem kulturellen Hotspot fingen mit kleinsten Schritten an. Der Schriftsteller und Psychiater Adolf Jens Koemeda und seine Frau, die Psychotherapeutin und Publizistin Margit Koemeda-Lutz, suchten Ende der 1970er Jahre ein grösseres Gebäude für Psychotherapieseminare. Doch erst 1980 wurde er in Ermatingen durch Vermittlung des damaligen Gemeindeammanns fündig.

Das Schloss Breitenstein war räumlich gesehen eine gute Wahl, gleichzeitig aber auch lange leerstehend und vernachlässigt. Das Gebäude war seinerzeit nur knapp der Abrissbirne entkommen. Doch Koemeda, zufällig Sohn eines Denkmalpflegers mit Gespür für erhaltenswerte Bausubstanz, konnte Breitenstein kaufen und langsam aber sicher zu dem aufbauen, was es heute ist.

Im Jahr 1981 begannen die Koemedas mit ihrer Vision, auf Breitenstein einen Platz für den fachlichen Austausch zu schaffen und starteten mit Seminarwochen für Fachleute. Bald schon entstand dafür die erste Kulturinitiative, das „Kellertheater“. Jede Seminarwoche wurde von  Lesungen, Kabarett oder Musik begleitet und Kultur wurde schnell zum festen Bestandteil des Programms. Das Kellertheater überstand das Ende der Seminarangebote im Jahr 2000 und wurde zum eigentständigen Kulturangebot weiterentwickelt.

Adolf Jens Komeda mit dem Filmemacher Fredi M. Murer, der bei seiner Einladung im Jahr 2006 über seinen mehrfach preisgekrönten Spielfilm „Vitus“ sprach. Bild: Familie Koemeda

Eine Hauschronik in vier Teilen

Mit dem jüngst erschienenen Buch „Breitenstein 1981-2020“ haben Koemedas gemeinsam mit JournalistInnen und Weggefährten nun eine detaillierte Hauschronik für all diese Jahre geschaffen. Der erste Teil widmet sich den zahlreichen Kursen, die bis 2000 im Haus stattfanden, und enthält neben den detaillierten Kursprogrammen auch Erinnerungen und Notizen, die für die Veranstalter damit verknüpft sind.

Der zweite Teil widmet sich den Theaterabenden und Konzerten, die seit 2001 „nach einer schöpferischen Pause“ in Breitenstein initiiert wurden. Margit Koemeda notiert, sie seien damals veranstaltungsmüde geworden. Überbrückt wurde die Pause mit Buchprojekten, Immobilienpflege und „Ideen sammeln“. 2003 startete auf Breitenstein dann das Zeitalter des kulturellen Austauschs.

«Menschen verschiedener politischer, geografischer, sozialer Herkunft kommen zusammen und finden Gemeinsamkeiten in ihrer Verschiedenheit. Sie verweilen nicht in ihrem Clan, verkapseln sich nicht in der Blase von Gleichgesinnten, sie versuchen, andere zu verstehen, auf sie einzugehen und die eigene Meinung in Frage zu stellen.»

Moritz Leuenberger, ehemaliger Schweizer Bundesrat und Bundespräsident im Beitrag „Was ich in Breitenstein entdeckte“

Zuerst wurde das Kellertheater wieder in Betrieb genommen. 2008 folgte „Literatur in historischen Häusern am Untersee“, für das das Ehepaar bis 2017 verantwortlich zeichnete. Inzwischen wird das Projekt erfolgreich weitergeführt von Irene von Ballmoos sowie Felix und Barbara Müller, die bei den Lesungen in den Jahren zuvor selbst regelmässig Gastgeber waren. Auch hier protokolliert das Buch Termine und Gäste und lässt hinter die Kulissen blicken. Familie Koemeda weiss noch heute recht gut Bescheid zu geben über Zuschauerreaktionen, Presseresonanz oder lange Nächte mit Diskussionen und Requisiten aufräumen.

Nach der Lesung: Lebhafte Gespräche bei Speis und Trank. Die Erinnerungen früherer Gäste zeigen, dass Familie Koemeda die Verköstigung nie fertig bestellte, sondern stets selbst vorbereitete. Bild: Familie Koemeda

Persönliche Erinnerungen

Ein dritter Teil widmet sich den Stimmen von Nachbarn, Theatergästen und befreundeten Künstler, die die Geschichte von Breitenstein miterlebt oder mitgeprägt haben. Und so kommt zum Beispiel heraus, dass das Catering von Familie Koemeda mit hauseigenen Schnittchen gestemmt wurde oder dass sich in Ermatingen wegen der damals frisch entwickelten Urschreitherapie merkwürdige Gerüchte entwickelten, wenn diese auf Breitenstein ausprobiert wurde. Der kurze vierte Teil rundet mit zwei Essays ab. Der Beitrag von Adolf Jens Komeda selbst handelt von der Gegenwart — über Zukunft und Zivilisation macht sich Max von Tilzer Gedanken.

Die Chronik leistet neben dem Protokoll für vierzig Jahre berufliches und veranstalterisches Schaffen auch einen bebilderten Einblick in die vielfältige Kunstszene, die in Ermatingen zu Gast war. Vielleicht ist als Abschluss ein Zitat aus dem dritten Teil angebracht, aus dem Text von Christof Ammermann:

«Die schweizerische Familie Koemeda hat österreichische, deutsche und tschechische Wurzeln. „Breitenstein“, hoch über dem Untersee, blickt vom bodenständigen Thurgau nach Baden und in die Ferne. Mag sein, dass so viel stiller Brückenbau mich besonders angezogen hat.»

Die HerausgeberInnen der Hauschronik v.links oben im Uhrzeigersinn: Felix Müller, Adolf Jens Koemeda, Margit Koemeda-Lutz, Barbara Müller. Bild: Koemeda/Müller

 

Das Buch

Breitenstein 1981-2020: Tagungen, Theater, Lesungen, Konzerte

Adolf Jens Koemeda, Margit Koemeda-Lutz, Felix Müller und Barbara Müller (Hrsg.)

Edition 381, Zürich 2021

ISBN 978-3-907110-17-1

 

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